Das Baby hat auf Ihr Dossier gepinkelt? Verzeihen Sie ihm, vielmehr: Danken Sie ihm!

Es klingt absurd. Aber ein noch nicht kontinentes Baby, ein schlecht erzogener Hund oder ein Wasserschaden können uns durchaus aus einer misslichen Lage befreien. Und uns zum Schreiben treiben.

Ein Mann stirbt in der Badewanne, das Badewasser läuft über und sickert durch die Dielen in das untere Stockwerk, dorthin, wo der Tisch von Robertas Familie steht. Ausgerechnet. Denn auf diesem Tisch lag Robertas Schularbeit, in langer und mühevoller Arbeit abgefasst, aber jetzt komplett eingenässt. Unbrauchbar. Man bittet den Lehrer um Nachsicht. Ein starkes Stück. Und natürlich eine glatte Lüge. Der Lehrer weiss es. Er hat Roberta ja beobachtet, als sie diese Entschuldigung schrieb, im Namen ihrer Eltern, während des Unterrichts, mit der linken Hand, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass die Zeilen nicht von ihr stammten und Glaubwürdigkeit suggerierten. Es wäre leicht, sie zu entlarven, und mancher Lehrer täte dies wohl. Roberta aber blieb unbehelligt. Weil ihr Lehrer Frank McCourt hiess.

Dieser Umstand könnte jetzt natürlich eine Diskussion entfachen um die Problematik solcher Ausreden, die es wohl gibt, seit die erste Schule eröffnet wurde. Denn so phantasievoll, so farbig, so amüsant diese Entschuldigungen auch daherkommen, so sind sie doch allesamt erlogen und trachten zudem danach, den Adressaten für blöd zu verkaufen. Und das mag ja wohl keiner. Hinzu kommt die Frage, warum die Schützlinge ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin offenbar nicht vertrauen, zumindest nicht genug, um ihnen die Wahrheit sagen zu können, und das ist wirklich keine einfache Frage.

McCourt hat diese Frage nicht gross beschäftigt, dafür etwas anderes: Roberta und alle anderen Kinder ihrer Klasse verweigerten sich üblicherweise hartnäckig, wenn es darum ging, etwas zu schreiben. Nur in einem Fall flossen ihnen die Worte zügig aus dem Stift, nämlich dann, wenn es galt, sich aus einer delikaten Situation herauszuwinden. Dann liessen sie Boiler explodieren, Feuer ausbrechen, das Baby auf den Aufsatz pinkeln, den Hund die Hausaufgabe fressen, dann ersannen sie Schlaganfälle, Fehlgeburten und Raubüberfälle und lieferten damit ungewollt «Juwelen der Fiktion, Phantasie, Kreativität…», wie McCourt in seinem autobiografischen Roman «Tag und Nacht und auch im Sommer» schreibt.

Was näher besehen gar nicht so verwunderlich ist. Eine gute Ausrede muss dramatisch sein, Konflikte bergen und riesige Herausforderungen beschreiben, damit der Adressat sich kleinlich vorkäme, angesichts so gewaltiger Ereignisse noch einmal mit der trivialen Frage nach der unerledigten Hausaufgabe vorbeizukommen. Kleinlich wäre es auch, dem Helden der Geschichte, den das Leben gerade so hart prüft, dieses Leben noch schwerer zu machen. Und kleinlich will ja keiner sein, wenn er doch die Chance bekommt, als verständnisvoller und hilfreicher Mentor in die Abenteuergeschichte des kleinen Helden einzugehen. Kurzum: Eine brauchbare Ausrede muss all jene Eigenschaften aufweisen, die wir von einer guten, aber als fiktiv deklarierten Geschichte erwarten: Konflikte, Krisen, dramatische Herausforderungen für den Helden und die Heldin. Und darum lesen und hören wir Entschuldigungen dieser Art auch so gerne. Sie haben das gleiche Muster wie Geschichten, und Geschichten wiederum bilden in ihrem Erzählmuster das richtige Leben ab, wie ich es in einer früheren «Stoffprobe» schon ausgeführt habe. («Es braucht Zauberbücher, mein Junge, mein Mädchen»). Dass eine Entschuldigung dieser Art nur vorgibt, vom richtigen Leben zu erzählen, kümmert unser Gemüt wenig. Unser Gemüt verlangt nach Geschichten.

Womit wir die Frage noch nicht beantwortet haben, ob man Lügengeschichten an einer Schule dulden darf. McCourt löst die Sache pragmatisch. Er gibt seiner Klasse zu verstehen, dass er wohl weiss, aus wessen Feder solche Entschuldigungen fliessen. Und er bittet sie um weitere Entschuldigungen, für ihre zukünftigen Kinder, Adam und/oder Eva, sogar für Al Capone, Judas und alle Politiker Amerikas. Und am Ende des Tages hält er nicht nur gute Geschichten in den Händen. Er hat seine Schützlinge auch dazu gebracht, sich in jemanden hinein zu versetzen, vielleicht sogar hinein zu fühlen; sich über die Lebensumstände dieses Jemand Gedanken zu machen; zu verstehen, warum dieser Jemand so und nicht anders handeln konnte. Ein Vorgang, den Erzähler beherrschen müssen, wenn sie glaubhafte Figuren schaffen wollen, die glaubhafte Dinge tun. Und zudem eine gute Übung in Empathie, das heisst in der Fähigkeit, Gefühle und Beweggründe der anderen zu erkennen. Zu erkennen, aber nicht unbedingt gut zu heissen. Und das ist das Befreiende daran.

In diesem Sinne: Tun Sie das, was ich in meiner Erzähl-Manufaktur ab und zu mache. Sozusagen als Fingerübung. Schreiben Sie Entschuldigungen. Für Ihren nörgelnden Nachbarn. Für Ihre pubertierende Tochter. Für Ihren mürrischen Schwiegervater und Ihren Chef. (Für Politikerinnen und Politiker dieses Landes? Na, wir wollen jetzt nicht übertreiben.) Es wird Ihnen guttun. Und Sie werden vielleicht, ganz nebenbei, ein Stück Literatur schaffen, dramatisch, farbig und zu Tränen rührend.

Gut trainierte Männer passen nicht immer ins Bild. Leider.

Die Sehnsucht nach Schönem könnte einen schon dazu treiben, den einen oder anderen gut trainierten Mann in eine Geschichte zu schmuggeln. Oder eine schöne Frau. Was nicht verboten ist. Es sei denn, sie irren sinnlos durch den Text.

An diesem Tag hätte sie mir beinahe die Tür eingetreten, und nachdem ich das knapp verhindert hatte, stand sie, nennen wir sie Grethe, schnaufend in meiner Küche. Sie musste von ihrer Wohnung im Hochparterre links zu mir hinauf in den vierten Stock gerannt sein, aus gutem Grund, denn es gab Neuigkeiten. Schlechte Neuigkeiten. Immerhin nichts Tödliches, aber genug Dramatisches, eben genau das, was Grethe mochte. Die Mieterin vom Hochparterre rechts, nennen wir sie Ute, räumte nämlich ihre Wohnung leer. Zwei Männer, jung und gut trainiert, hatten ihr am Morgen geholfen, einen alten, wertvollen Schrank wegzubringen. Und: Utes Mann war weg. Ward seit Tagen schon nicht mehr gesehen. Und in der Zeit vor seinem Verschwinden hatte er schlecht ausgesehen. Wirklich schlecht, nicht bloss leicht unpässlich. Klar, was da abging: Zerrüttete Beziehung, ihm reichts, er haut ab, und sie vertickt seine Möbel. Zumindest diesen Schrank. Oder sie verschwindet ebenfalls, in Begleitung von gleich zwei jungen Kerlen.

Oder. Ein Wort, das mich in den nächsten Tagen das Fürchten lehrte. Beinahe jeder Satz von Grethe begann damit. Oder: Doch etwas Tödliches. Die beiden gut trainierten jungen Männer hatten verdächtig viel Kraft aufwenden müssen, als sie den Schrank aus der Wohnung trugen und auf ihren kleinen Laster hievten. Also leer war der nicht, der Schrank. Möglicherweise hatte Ute ihren Mann darin verstaut, nachdem er… oder nachdem sie ihn… Oder: Er ist zu seiner Geliebten gezogen, hat Ute in einem Anfall von schlechtem Gewissen das Mobiliar überlassen, ausser eben diesem Schrank… Oder: Es war keine Geliebte, sondern ein Geliebter, vielmehr waren es zwei. Was dann so nebenher die beiden Guttrainierten erklärt hätte.

Ich glaubte Grethe kein Wort. Aber ich mochte ihre Art, auch die kleinste Begebenheit als Indiz zu nehmen für eine haarsträubende, atemberaubende Geschichte. Das tun wir alle. Wir denken im Ursache-Wirkung-Schema, wir denken kausal. Alles muss seinen Grund haben. Daran müssen sich auch Geschichten halten. Damit die Leserinnen und Leser ihnen Sinn geben können, sind sie darauf angewiesen, dass das Geschehen logisch abläuft, dass jede Wirkung ihre Ursache hat. Wie im richtigen Leben. Frenzel, Müller & Sottong (Storytelling – Das Praxisbuch) fordern folgerichtig die kausale Verknüpfung der einzelnen Elemente einer Geschichte, und damit meinen sie nicht nur Anfang und Ende: «Auch die einzelnen Schritte… müssen aufeinander bezogen sein», und zwar selbst die kleinsten Schritte, mit jedem Detail. Sogar Gegenstände dürfen nicht grundlos herumliegen, wie schon Tschechow es einst gefordert hat, als er sinngemäss sagte, dass eine Pistole, die im ersten Akt eines Theaterstücks an der Wand hängt, spätestens im dritten Akt abgefeuert werden muss. Wird sie nicht abgefeuert, die Pistole, oder gibt es keinen Grund dafür, dass Guttrainierte auftreten, dann sollte man sie am besten aus der Geschichte entfernen. Jawohl, weg mit ihnen, so sehr uns das auch schmerzen mag. Sie lenken unsere Leserinnen und Leser nur ab, denn sie  sind damit beschäftigt, selber nach Ursachen für ihr Auftreten zu suchen, und verpassen die eigentliche Geschichte. Nur wenn wir uns beim Lesen darauf verlassen können, dass die Geschichte sich redlich um Kausalität bemüht, bekommen wir Lust zu spielen und uns eine Weile lang eigene Ursachen auszudenken. Die Geschichte öffnet dann eine riesige Landschaft voller Spuren, denen wir nachgehen, unaufdringlich geführt von unserem Erzählerin oder unserem Erzähler. Ab und zu führen die Spuren zu einer Überraschung, immer dann, wenn die Wirkung eine Ursache hat, an die wir selbst nie gedacht hätten.

Ich verstehe Grethe. Es könnte schon durchbrennen mit einem, wenn man nach nicht üblichen Ursachen sucht. Es sollte auch durchbrennen, zumindest, wenn es darum geht, eine Geschichte spannend zu erzählen. Aber auch ein Ursache-Wirkung-Schema, das auf der Hand liegt, muss nicht langweilig werden. Indem wir nur die Wirkung beschreiben: Eine versiffte Wohnung mit halbleeren Flaschen; oder ein blitzblankes Haus, überall hat es Glasuntersetzer und Schonbezüge. Man liest es, und man weiss Bescheid über den Menschen, der hier lebt. Mit diesem Vorgang spielt Monika Helfer in ihrem Roman «Die Bagage», wenn sie schreibt: «Vor dem Haus eine aufrechte Frau, sie hängt die Wäsche an die Leine… Jetzt gerade klammert die Frau eine Strampelhose fest und ein Jäckchen, also hat sie Kinder.»

Nach ein paar Tagen übrigens kam Utes Mann zurück. Etwas lädiert, etwas schwach. Er kam aus dem Spital. Blinddarmoperation. Nichts, was man den Nachbarn hätte mitteilen müssen. «Der Schrank? Ach ja, der Schrank», sagte Grethe. «Der kam ins Brockenhaus, wie bereits vor dem Spitalaufenhalt geplant. Die jungen Männer? Grethe gab nicht auf. «Ja, diese jungen Männer, nicht wahr? Na, im Brockenhaus arbeiten die bestimmt nicht. Weiss der Teufel, woher Ute die kennt. Von der Arbeit? Oder…»

Darum gehört ein markantes Aftershave in den Notvorrat

Reden wir über Umarmungen. Ausgiebig und ausführlich. So oft es geht. Darüber zu reden, ist noch erlaubt. Und wichtig. Denn vielleicht sind Geschichten über Umarmungen bald die Geschichten, die sich unsere Enkelkinder von uns wünschen.  

Gleich würde er meinen Namen rufen und strahlend auf mich zueilen, um mich in seine Arme zu schliessen und eine ganze Weile festzuhalten. Dann würde er  zwei herzhafte Schmatzer auf meiner rechten und meiner linken Wange platzieren, und dann noch zwei… und so weiter. Jedesmal, wenn ich ihn von Weitem sah, wusste ich, dass das passieren würde. Und dass er für den Rest des Tages und einen guten Teil des Abends bei mir bleiben würde. Nicht, was Sie jetzt wieder denken! Er blieb nur in meinen Gedanken bei mir. Vor allem, weil er die Angewohnheit hatte, sich ein Aftershave ins Gesicht zu schütten, das, sagen wir mal, einige recht markante Duftkomponenten enthielt. Es blieb an jedem haften, der in den Genuss seiner Umarmungen kam. Den ganzen Tag über und weit in den Abend hinein. Das Aftershave war  Geschmackssache. Aber seine Umarmungen mochte jeder.

Mochte. Vergangenheit. Nicht, weil er inzwischen gestorben wäre. Es geht ihm gut. Aber weil es solche Umarmungen nicht mehr gibt. Solche Umarmungen sind abgeschafft, beinahe verboten, was mich und meinen rebellischen Geist allerdings auf ein paar Ideen bringen könnte. Aber nicht lange. Sie würden nach staatlicher Einschätzung alle das Leben derer gefährden, die mir nahestehen. Wobei «nahestehen» jetzt irgendwie auch nicht mehr passt. Wie nahe stehen wir einander noch? Oder wie weit entfernt stehen wir? Ein, anderthalb, zwei Meter? Kommt darauf an, in welchem Land wir leben. International dagegen ist die Tatsache, dass wir bei Begrüssungen jetzt oft herumstehen wie linkische Teenager, weil wir nicht mehr wissen, was zu tun ist, was höflich ist, wertschätzend und herzlich. Und ich warte darauf, dass mir oder sonst jemandem ein pubertäres «‘s geht ab, Alter?» oder etwas in der Art entschlüpft. Es würde passen. Uns fehlen die alten Konventionen, auf die wir bis vor Kurzem zurückgreifen konnten. Und die neuen verwirren. Dieser Ellenbogen-Unterarm-Gruss. Wo wir diese Körperteile bislang dafür einsetzten uns zu schützen oder gar Feinde abzuwehren? Unglücklich. Und doch auf eine traurige Weise logisch. Für die Meisten ist jedes Gegenüber zu einer potentiellen Virenschleuder geworden, die es abzuwehren gilt. Hände halten, Hände schütteln, auch das geht nicht mehr. Das Lächeln sei jetzt der neue Handschlag, heisst es. Nur sehe ich kaum jemanden lächeln.

Es gibt Varianten, die Ghettofaust etwa. Zwar irgendwie cool, aber was eine Faust körpersprachlich aussagt, kann man nachlesen, etwa bei Samy Molcho (Körpersprache). Die leichte Verbeugung, zu der sich einige entschlossen haben, spricht zwar von Ehrerbietung, aber eben auch von Unterwerfung. Etwas anderes müsste her, und alle warten wir noch damit, in der Hoffnung, dass bald alles wieder wird, wie es war, mit Handschlag, Küsschen und Umarmungen. Doch selbst die nun betrauerten Umarmungen haben eine andere Seite: In Wüstenkulturen umarmte man sich, weil man kontrollieren wollte, ob sich unter den weiten Gewändern des Gegenübers Waffen verbargen. Sagt Samy Molcho.

Und eigentlich wollte ich ja über etwas ganz anderes schreiben. Darüber, wie man einen Text, egal welcher Art, beginnen müsste. Und da bin ich eben auf die Umarmung gekommen. Zwar nicht direkt. Aber es heisst ja ab und zu, dass der Anfang eines Textes wie ein Handschlag ist und deshalb so gestaltet werden muss, wie die erste Begegnung mit einem Menschen. Es ist von «in den Bann ziehen» die Rede, wir haben die Leserinnen und Leser zu «packen», vom ersten Augenblick an müssen wir sie «berühren», und wir dürfen sie nicht mehr «loslassen», bis zum Ende unserer Geschichte.

Vokabeln aus einer anderen Zeit. Und doch trifft es die Sache. Nur, dass wir in einem Text schon immer weniger Mittel hatten, Sympathien zu gewinnen, als bei der direkten Begegnung. Oder, sagen wir, andere. Einen optischen Eindruck müssen wir zuerst erzeugen, etwa, indem wir eine kleine Szene beschreiben. Auch fehlt das Gegenüber, zu dem wir Kontakt herstellen könnten. Wir versuchen es dennoch, zum Beispiel mit einer Frage. Oder wir bauen ein  Rätsel auf, fangen eine Geschichte an… Brauchbare Beispiele finden sich zuhauf. Allen gemeinsam die eine Anforderung: Emotionen wecken. Bei Rolf Wespe und Marie Lampert (Storytelling für Journalisten) kristallisiert sich diese Anforderung in einem einzigen Punkt, dem Story-Punkt. Er steht am Anfang der der Storykurve (ausgedacht von Peter Züllig und nicht zu verwechseln mit «Story points»). Im Story-Punkt schlummern die Emotionen und warten darauf, geweckt zu werden. Denn, schreiben Wespe und Lampert, «Ein emotionales Erlebnis schafft die Bereitschaft, Informationen aufzunehmen». Und es erzeugt  Nähe und somit Interesse, und davon sollten wir nicht abkommen. Gerade jetzt nicht. Zur Not schreiben wir eine Weile nur über diese Nähe. Damit sie nicht vergessen wird, damit man nachlesen kann, wie es geht mit dieser Nähe. Ein gewisser Notvorrat an solchen Texten wäre nicht verkehrt. Ich arbeite in meiner Erzähl-Manufaktur daran. Und bin erst zufrieden, wenn das Papier, auf dem sie stehen, ein wenig nach Aftershave duftet.

Sie wollen im Garten schreiben? Aber Sie haben doch gar keinen Garten!

Sie wollen erzählen. Unter einem Apfelbaum im Garten. Wenn Sie dann einmal einen haben. Aber: «Wenn dann einmal», das ist zu spät. Geschichten dulden keinen Aufschub. Und keine Ausreden.

Wir rannten wie der Teufel. Weil wir, Karl (Name fiktiv) und ich, auf dem Heimweg von der Schule jemanden verfolgten. Oder verfolgt wurden. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Nehmen wir also ersteres an. Versehrt waren wir trotzdem, als wir bei Karls Grossmutter ankamen. Karls Grossmutter war so, wie man sich Grossmütter damals vorstellte: Gross, schön, schwarz gekleidet, weisshaarig und unglaublich sanft, ganz anders als alle Grossmütter, die ich sonst kannte, und doch die Grossmutter schlechthin. Sie leistete still Erste Hilfe, gab dann jedem von uns ein stark gezuckertes Hustenbonbon, obwohl wir gar nicht erkältet waren, und setzte uns ins Wohnzimmer. Der Raum lag im Halblicht. Er war vollgestellt mit dunklen, schweren Möbeln, vollgestopft mit Büchern und Andenken, und es roch nach Äpfeln. Die Grossmutter setzte sich zu uns und erzählte uns eine Geschichte. Und seitdem war ihre Stube der Ort, an dem man Geschichten erzählt und hört. Der einzig mögliche Ort.

Das mögen wir: Die Vorstellung, dass Geschichten einen ganz bestimmten Ort haben, an dem sie erzählt werden, und wir möblieren diesen Ort nicht ungern mit weichen Stühlen oder Kissen, gruppiert im Kreis, und in der Mitte ein Feuer, wenn sich das machen lässt, sicherheitstechnisch. Tatsächlich ist der Ort keine Nebensache. Sabine Gieschler, die Mitbegründerin des Berliner Erzählcafés (Leben erzählen), ist davon überzeugt, dass Geschichten einen festen Ort brauchen, genau wie es Orte gibt für das Theater, die bildende Kunst oder die Musik. Denn Erzählen ist für sie eine wesentliche Kulturtätigkeit, die öffentlich gepflegt werden muss. Öffentlich, aber dennoch in einem geschützten Raum. Der ideale Raum ist für sie das Erzählcafé, dem alten Kaffeehaus nachgebaut. Davon haben sich viele inspirieren lassen. Auch in unserem Land gibt es zahlreiche Erzählcafés, und es sollte noch mehr davon geben. Besonders Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren leisten mit Hilfe solcher Erzählcafés wertvolle Biografiearbeit. Und Unternehmen setzen das Erzählen ein, seit sein Wert für die Unternehmenskommunikation am Ende des letzten Jahrtausends bekannt wurde. Erzählen hiess nun Storytelling und besagte, dass  Geschichten brauchbar sind, wenn es darum geht, Lernprozesse in Unternehmen festzuhalten und allen zugänglich zu machen, sei es im Marketing oder bei Change-Prozessen.

Man sieht den Wert des Erzählens – und zaudert trotzdem. Frenzel und ihre Co-Autoren (Storytelling – Das Praxisbuch) hören oft, wie die Verantwortlichen in Unternehmen den Umstand beklagen, dass man leider über keine geeigneten Räume verfüge für diese Story-Telling-Sache, dass die Besprechungsräume dafür einfach zu nüchtern seien und so weiter. Nein, sagen Frenzel und ihre Co-Autoren. Unsere Vorstellung vom geeigneten Raum nähren sich aus lange vergangenen Zeiten, in denen das Feuer zum Heizen und Kochen gebraucht wurde. Klar, dass man am Feuer erzählte, weil es arschkalt war und man ohnehin dort sass, wenn man nicht erfrieren wollte. Das hatte nichts Romantisches, das war der knallharte Alltag, das Selbstverständliche. Dieses Selbstverständliche ist es, das wir unseren Vorfahren nachmachen sollten. Indem wir wie sie die Geschichten in unseren beinharten Alltag einbauen. 

Natürlich ist es betörend, in einem schönen Raum zu erzählen. Doch der Raum darf nicht ausschlaggebend sein. Wäre er das, hätte Anne Frank, versteckt im Hinterhaus, nie Tagebuch geschrieben. Und Joanne K. Rowling hat dem Vernehmen nach ihren ersten Harry Potter-Roman in einem Pub realisiert, da kein Geld da war, um ihre Wohnung zu heizen. Karl May schrieb im Knast, zumindest hat er das behauptet. Ganz sicher hat er sich mit seinen Geschichten aus einer traurigen Realität wegerzählt. Es könnte also sein, dass der geeignete Raum Nebensache ist. Weil die Geschichten selber Räume schaffen. So gesehen ist es reine Zeitverschwendung, mit dem Erzählen zu warten, bis man mehr Zeit hat, einen Apfelbaum gefunden hat, unter dem man schreiben will, ein Schreibzimmer eingerichtet hat… Hätte Forrest Gump im gleichnamigen Film auf all das gewartet, hätten wir seine sagenhaften Geschichten nie miterlebt. Er erzählt auf einer harten Bank an einer Bushaltestelle in Savannah, Georgia.

Ich war übrigens nur dieses eine Mal in der Stube von Karls Grossmutter. Sie starb bald darauf, den Ort für Geschichten gab es nicht mehr. Ich musste mir notgedrungen andere Orte suchen, aber in keinem von ihnen waren Geschichten je so zuhause wie damals in ihrer Stube. Dafür sind sie jetzt überall. Ich schreibe am Küchentisch, in Wartezimmern, in der Bar… Und meine Erzähl-Manufaktur steht immer dort, wo sie gerade gebraucht wird: In einer Spenglerei, in der Kirche; in der Bibliothek; im Kleiderladen; im Sitzungsraum. Es geht nicht um den Ort, nicht in erster Linie. Die Geschichten sind der Ort. Und vielleicht sagt einmal jemand das zu mir, was eine Frau zu Forrest Gump sagt, an dieser Bushaltestelle in Savannah, Georgia: «Ich fand, das war eine wirklich sehr hübsche Geschichte. Und Sie erzählen sie so schön, mit so viel Begeisterung». Dann weiss ich, dass wir beide am gleichen Ort waren.