Sie wollen erzählen. Unter einem Apfelbaum im Garten. Wenn Sie dann einmal einen haben. Aber: «Wenn dann einmal», das ist zu spät. Geschichten dulden keinen Aufschub. Und keine Ausreden.
Wir rannten wie der Teufel. Weil wir, Karl (Name fiktiv) und ich, auf dem Heimweg von der Schule jemanden verfolgten. Oder verfolgt wurden. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Nehmen wir also ersteres an. Versehrt waren wir trotzdem, als wir bei Karls Grossmutter ankamen. Karls Grossmutter war so, wie man sich Grossmütter damals vorstellte: Gross, schön, schwarz gekleidet, weisshaarig und unglaublich sanft, ganz anders als alle Grossmütter, die ich sonst kannte, und doch die Grossmutter schlechthin. Sie leistete still Erste Hilfe, gab dann jedem von uns ein stark gezuckertes Hustenbonbon, obwohl wir gar nicht erkältet waren, und setzte uns ins Wohnzimmer. Der Raum lag im Halblicht. Er war vollgestellt mit dunklen, schweren Möbeln, vollgestopft mit Büchern und Andenken, und es roch nach Äpfeln. Die Grossmutter setzte sich zu uns und erzählte uns eine Geschichte. Und seitdem war ihre Stube der Ort, an dem man Geschichten erzählt und hört. Der einzig mögliche Ort.
Das mögen wir: Die Vorstellung, dass Geschichten einen ganz bestimmten Ort haben, an dem sie erzählt werden, und wir möblieren diesen Ort nicht ungern mit weichen Stühlen oder Kissen, gruppiert im Kreis, und in der Mitte ein Feuer, wenn sich das machen lässt, sicherheitstechnisch. Tatsächlich ist der Ort keine Nebensache. Sabine Gieschler, die Mitbegründerin des Berliner Erzählcafés (Leben erzählen), ist davon überzeugt, dass Geschichten einen festen Ort brauchen, genau wie es Orte gibt für das Theater, die bildende Kunst oder die Musik. Denn Erzählen ist für sie eine wesentliche Kulturtätigkeit, die öffentlich gepflegt werden muss. Öffentlich, aber dennoch in einem geschützten Raum. Der ideale Raum ist für sie das Erzählcafé, dem alten Kaffeehaus nachgebaut. Davon haben sich viele inspirieren lassen. Auch in unserem Land gibt es zahlreiche Erzählcafés, und es sollte noch mehr davon geben. Besonders Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren leisten mit Hilfe solcher Erzählcafés wertvolle Biografiearbeit. Und Unternehmen setzen das Erzählen ein, seit sein Wert für die Unternehmenskommunikation am Ende des letzten Jahrtausends bekannt wurde. Erzählen hiess nun Storytelling und besagte, dass Geschichten brauchbar sind, wenn es darum geht, Lernprozesse in Unternehmen festzuhalten und allen zugänglich zu machen, sei es im Marketing oder bei Change-Prozessen.
Man sieht den Wert des Erzählens – und zaudert trotzdem. Frenzel und ihre Co-Autoren (Storytelling – Das Praxisbuch) hören oft, wie die Verantwortlichen in Unternehmen den Umstand beklagen, dass man leider über keine geeigneten Räume verfüge für diese Story-Telling-Sache, dass die Besprechungsräume dafür einfach zu nüchtern seien und so weiter. Nein, sagen Frenzel und ihre Co-Autoren. Unsere Vorstellung vom geeigneten Raum nähren sich aus lange vergangenen Zeiten, in denen das Feuer zum Heizen und Kochen gebraucht wurde. Klar, dass man am Feuer erzählte, weil es arschkalt war und man ohnehin dort sass, wenn man nicht erfrieren wollte. Das hatte nichts Romantisches, das war der knallharte Alltag, das Selbstverständliche. Dieses Selbstverständliche ist es, das wir unseren Vorfahren nachmachen sollten. Indem wir wie sie die Geschichten in unseren beinharten Alltag einbauen.
Natürlich ist es betörend, in einem schönen Raum zu erzählen. Doch der Raum darf nicht ausschlaggebend sein. Wäre er das, hätte Anne Frank, versteckt im Hinterhaus, nie Tagebuch geschrieben. Und Joanne K. Rowling hat dem Vernehmen nach ihren ersten Harry Potter-Roman in einem Pub realisiert, da kein Geld da war, um ihre Wohnung zu heizen. Karl May schrieb im Knast, zumindest hat er das behauptet. Ganz sicher hat er sich mit seinen Geschichten aus einer traurigen Realität wegerzählt. Es könnte also sein, dass der geeignete Raum Nebensache ist. Weil die Geschichten selber Räume schaffen. So gesehen ist es reine Zeitverschwendung, mit dem Erzählen zu warten, bis man mehr Zeit hat, einen Apfelbaum gefunden hat, unter dem man schreiben will, ein Schreibzimmer eingerichtet hat… Hätte Forrest Gump im gleichnamigen Film auf all das gewartet, hätten wir seine sagenhaften Geschichten nie miterlebt. Er erzählt auf einer harten Bank an einer Bushaltestelle in Savannah, Georgia.
Ich war übrigens nur dieses eine Mal in der Stube von Karls Grossmutter. Sie starb bald darauf, den Ort für Geschichten gab es nicht mehr. Ich musste mir notgedrungen andere Orte suchen, aber in keinem von ihnen waren Geschichten je so zuhause wie damals in ihrer Stube. Dafür sind sie jetzt überall. Ich schreibe am Küchentisch, in Wartezimmern, in der Bar… Und meine Erzähl-Manufaktur steht immer dort, wo sie gerade gebraucht wird: In einer Spenglerei, in der Kirche; in der Bibliothek; im Kleiderladen; im Sitzungsraum. Es geht nicht um den Ort, nicht in erster Linie. Die Geschichten sind der Ort. Und vielleicht sagt einmal jemand das zu mir, was eine Frau zu Forrest Gump sagt, an dieser Bushaltestelle in Savannah, Georgia: «Ich fand, das war eine wirklich sehr hübsche Geschichte. Und Sie erzählen sie so schön, mit so viel Begeisterung». Dann weiss ich, dass wir beide am gleichen Ort waren.