Alle, die ausschliesslich Hochstehendes und Hochwertiges schreiben wollen, müssen jetzt tief durchatmen. Es geht hier um banale Details wie Essen und Trinken. Darum, wie wichtig sie sind. Und darum, dass Product Placement durchaus eine gewisse Daseinsberechtigung hat.
Ein verlassenes Hausboot mit dem Namen Antigone strandet am Rheinwehr. Es gehört dem Basler Theaterintendanten Bernhard Vetter, der spurlos verschwunden ist. Die Polizei steht unter Druck. Aber sie hat ja Kommissar Hunkeler. Der hat es noch immer gerichtet, und daran wird sich auch im neusten Roman von Hansjörg Schneider hoffentlich nichts ändern. Aber von diesem ist hier nicht die Rede. Ein neuer Roman ist kein Grund, die alten zu vergessen, weil man, wenn man die Handlung schon kennt, auf anderes achten kann, zum Beispiel im Roman «Hunkeler und die Augen des Ödipus». Das ist eben der mit dem Hausboot und dem Theaterintendanten. Der übrigens bald auftaucht, als Leiche. Ein schauerlicher Anblick, und gewiss auch etwas unappetitlich.
Und doch bekomme ich beim Lesen nach wenigen Seiten Hunger, nein, eigentlich mehr: Es ergreift mich die Sehnsucht nach etwas Gutem. Denn davon gönnt sich der Kommissar nicht zu knapp. Bevor er überhaupt von diesem Fall erfährt, frühstückt er, und zwar Eier, soeben gelegt von seinen Hühnern im Elsass, und der Hahn dieser Hühner heisst Fritz. Dazu Butterzopf, Honig, Kaffee und Tee. Dann die Nachricht von Antigone und dem verschwundenen Intendanten. Hunkeler fährt nach Basel. Aber bevor er sich zum Rapport begibt, um sich dort mit seinem Gegenspieler Madörin zu fetzen, kehrt er bei Edi ein, welcher Wildschweinpastete mit Weissbrot und Essigzwiebeln serviert und dazu eine Flasche Riesling empfiehlt. Was alles, das gebe ich zu, für den Fortgang der Handlung nicht wichtig ist. Der Kommissar könnte ja einfach «frühstücken» und bei Edi «etwas essen», oder man könnte die Sache mit der Nahrungsaufnahme ganz bleiben lassen. Und doch: Indem ich mit diesem Hunkeler durch die Stadt streife, ihn eintreten sehe in diese Beiz und jene Bar, mit ihm esse und trinke und Leuten begegne, erfahre ich viel über ihn, ohne dass Hansjörg Schneider ihn explizit charakterisieren muss. Ich erfahre das, was man im Film «Backstory» nennt, und diese darf, wie der Name gebietet, nicht in den Vordergrund treten und die Haupthandlung stören. Backstory meint streng genommen die Vorgeschichte des Protagonisten. Ich fasse den Begriff etwas weiter und verstehe darunter auch die gegenwärtigen Lebensumstände der Figur. Und natürlich will ich diese kennen. Wer ist der Kerl, der diesen kniffligen Fall löst? Hat er Familie? Schulden? Eine Geliebte? Einen Hund? Oder eben einen Hahn namens Fritz? Das alles will ich nebenher erfahren, und noch lieber gezeigt bekommen. Mit Details. Was Schneider meisterhaft kann, und das längst nicht nur mit Hilfe von Essen und Trinken. Er liebt die Details und pflegt sie, er ist präzise, ohne einmal langweilig zu werden.
Jede Stilschule fordert Konkretes, also Details. Wolf Schneider (Das neue Handbuch für Journalismus) sieht im Konkreten die «totale Übereinstimmung zwischen Journalismus und Literatur». Konkret kann ich überall dort werden, wo nicht mit Hilfe von abstrakten Oberbegriffen kategorisiert werden muss. Weil ich bei «Geflügel» nichts gackern und krähen höre, bei «Huhn» und «Hahn» aber schon, und wenn der Hahn einen Namen hat wie bei Hunkeler, dann bin ich mitten im prallen Leben des Protagonisten. Der Autor zeichnet dessen Backstory schon vor dem Frühstück, indem er zeigt, satt sagt. Ganz im Sinne von Wolf Schneider: «Nur Sinneseindrücke… zu schildern, die Folgerungen daraus aber dem Leser zu überlassen, hat noch einen weiteren Vorzug: den, dass der Leser sich nicht durch das Urteil des Schreibers bevormundet fühlt.»
Anderen hat gerade die Präzision in den Details Vorwürfe eingetragen. Die Helden der Stieg-Larsson-Romane benutzten penetrant Apple-Produkte, heisst es. Product Placement! Schleichwerbung! Und das in der Literatur! Igitt! Oder doch nicht. Denn es macht einen Unterschied, ob ein Protagonist Apple-Benutzer ist oder nicht. Weil diese Produkte längst zum Statement ihrer Besitzerinnen und Besitzer geworden sind. Genauso wie ein Mercedes oder ein E-Bike. Beim Bundesamt für Kommunikation scheint man diesen Umstand erfasst zu haben, wenn man die Sache mit dem Product Placement für Filme folgendermassen regelt: «Während Schleichwerbung immer illegal ist, ist ein Product Placement dann zulässig, wenn es in die Sendungsdramaturgie passt und klar als solches deklariert ist.» Und im Zweifelsfall lieber ein Detail zuviel als das phantasielose Glas Rotwein in vielen Büchern und in noch mehr Serien, das die Protagonistin geniesst, während sie über ihren harten Tag sinniert. Nichts gegen Rotwein. Aber nicht alle sind Rotweintrinker. Das Detail wird absolviert, weil man weiss, dass es sein muss – und verkommt zum nutzlosen Requisit. Konkret muss es dennoch nicht immer sein. Die Hauptfigur in meiner Romanreihe lebt in einem nicht näher benannten Hochtal. Auf dass die Leserinnen und Leser sich ihre eigene Kulisse schaffen können, eine, die sie kennen. Das schafft Vertrautheit. Ansonsten lasse ich in meiner Erzähl-Manufaktur die Figuren recht präzise trinken, Talisker, Burgunder, Kaffee oder Bier. Trinken wir mit. Auf die Details. Die Richtigen. Sie sollen passen. Und fröhlich machen. So oft es nur geht.