Das gegenwärtige Regenwetter könnte einen schon auf Gedanken bringen. Die gegenwärtige Stimmung noch mehr. Ob es nicht wieder einmal Zeit wäre, eine Arche zu bauen. Mein neuer Roman handelt davon. «Zeit der Arche» heisst er , und er ist ab sofort zu haben. Hier eine Stoffprobe davon.
Tereza Kulikowa war keine Russin, das wusste inzwischen jeder auf dem Pass. Das einzig Russische an ihr war ihr klingender Name. Ansonsten war sie nie in Russland gewesen, sprach kein Wort Russisch, und selbst ihr verstorbener Mann, Wassili Kulikow, ein Milliardär mit Moskauer Wurzeln, hatte die meiste Zeit seines Lebens nicht in seiner eigentlichen Heimat verbracht, dafür aber seine letzten Jahre mit Tereza, die nach seinem Ableben über ein beträchtliches Vermögen verfügte. Dennoch nannte sie hier jeder einfach «die Russin».
Ansonsten wusste man nichts über sie – zumindest nichts, was sie selber erzählt hätte. Sie logierte seit einiger Zeit im «Alpenblick», belegte im Luxushotel die Suite und weitere Zimmer und lebte dort äusserst zurückgezogen. Sie zeigte sich nicht im Dorf, weder im Tankstellenladen noch im Hospiz. Was sie brauchte, liess die Kulikowa sich ins Hotel bringen. Auch wusste man von einem Hausbesuch, wenn man es denn so nennen konnte, den die Ärztin Nora Inderbitzin bei ihr im Hotel gemacht hatte, und zwar nicht an dem Wochentag, an dem sie ohnehin hier oben praktizierte. Sie hatte eigens für die Russin ihre Praxis in der Stadt verlassen und war auf den Pass gekommen. Etwas Ernstes schien ihr, der Russin, indessen nicht zu fehlen, vermutete man. Es sei bei einem einzigen Besuch der Ärztin geblieben.
Wenigstens, gestand man ihr zu, versuchte sie gar nicht, russisch zu wirken. Sie hätte ja zum Beispiel mit einem harten Akzent sprechen können. Aber sie blieb bei ihrem Dialekt, der im Nordosten des Landes gesprochen wurde. Alles, was sie sagte, klang hell und weich. Das wussten die Wenigen, die sich mit ihr unterhalten hatten; zu hell und zu weich für diesen Landstrich, fanden viele. Jaja, Nordosten, bestätigte Renate vom Tankstellenladen, nachdem sie die Kulikowa eingehend gegoogelt hatte. Renate hatte ein Bild von ihr und Wassili gefunden. Es zeigte die beiden an einem Wohltätigkeitsball aus dieser Gegend. «Das Ehepaar Kulikow-Hunziker», stand unter dem Bild. Renate hatte es Lea gezeigt, und auch noch ein zweites, älteres, aus den Achtziger Jahren, mit Theres Hunziker, wie sie damals noch hiess, als sie gerade zur «Miss Apfelblüte» gekürt worden war. Eine grosse, schlanke Frau, aus deren hellblonden Haaren eine Silberkrone aufblitzte. Lächelnd hielt sie einen Korb Äpfel im Arm.
„Hübsche Frau“, bemerkte Renate. „Und die Figur, nicht schlecht. Für die würde ich gern etwas schneidern. Ich sähe fliessende Stoffe an ihr…“
„Bitte, Renate, sag nicht ‚fliessend‘“, stöhnte Lea und blickte zum Himmel, aus dem es wie aus Kübeln goss. Seit Tagen regnete es unaufhörlich.
„Nach diesem Miss-Apfelblüte-Ding verliert sich die Spur der Russin“, murmelte Renate, während sie immer neue Stichworte in den Laptop tippte. „Bis eben zu ihrem Auftritt mit Wassili an diesem Wohltätigkeitsball, und dann wieder nichts, gar nichts. Sie könnte alles Mögliche getrieben haben, bevor sie hierhergekommen ist. Die Frage ist: Warum ist sie hier? Möglicherweise ist sie auf der Flucht.“
„Vor wem? Vor der Vereinigung der Obstproduzenten? Oder vor dem Verband der Metzger? Weil sie sich damals geweigert hat, auch noch Miss Bratwurst zu werden?“
Renate blickte ungehalten auf.
„Deine Aufgabe ist es doch, Geschichten zu erzählen, Lea. Nicht, sie zu ruinieren, bevor sie so recht angefangen haben.“ Und sie vertiefte sich wieder in ihre Recherchen.
Das war ein paar Tage her. Inzwischen hatte Renate ihre Nachforschungen unterbrochen und war nach Mailand abgereist, um sich Inspirationen für ihre neue Kollektion zu holen. Seit dem letzten Winter lief es in ihrem Schneideratelier mehr als erfreulich, was auch für Lea Arbeit bedeutete. Wenn Renate im Atelier einen grösseren Auftrag hatte, half Lea im Tankstellenladen aus, den Renate und ihr Mann Mike auf dem Pass betrieben.
„Eine Hand wäscht die andere“, pflegte Renate zu sagen, wenn sie Lea wieder einmal bat, sie im Laden zu vertreten. Und: „Mein Erfolg ist auch deiner“, was Lea immer ein Lächeln entlockte, das, wie sie hoffte, nicht allzu gequält aussah. Nicht, dass ihr die Arbeit in der Tankstelle nicht gefiel. Doch eigentlich war sie ja hier auf dem Pass, um Geschichten zu erzählen. Und zum Erzählen war sie nur allzu selten gekommen.
Alle vier Romane aus dieser Reihe gibt es auch in einem handgemachten Schuber. http://lava-verlag.ch/