Sie möchten im Auenland leben und dort Tagebuch schreiben? Aber worüber denn?

Auch die alltäglichsten Geschichten, sogar Gebrauchstexte erzählen von Heldinnen und Helden. Ihretwegen werden Geschichten gelesen. Behandeln Sie sie also gut. Indem Sie sie in Abgründe stürzen, ins Elend rennen lassen oder in die blanke Verzweiflung treiben.

Es ist ja alles ganz schlimm am Ende des ersten Bandes von «Herr der Ringe»: Zwei der Gefährten werden verschleppt, der grosse Mentor Gandalf verschwindet, die Reise nach Mordor steht an, die eigentlich nicht zu schaffen ist. Viel zu viel für den kleinen Hobbit Frodo, der keine geringere Aufgabe hat als die, die Welt zu retten. Ein Gedanke blitzt in uns auf: Warum das Buch jetzt nicht weglegen und sich für Frodo eine eigene Geschichte ausdenken? Die Welt ist schlimm genug. Warum also nicht wenigstens in einer Geschichte alles gut sein lassen? Warum sich nicht vorstellen, dass Frodo im Auenland geblieben wäre? Weil es keinen Grund gegeben hätte, wegzugehen? Sein Land wäre nämlich nicht bedroht gewesen, und der Rest der Welt ebenfalls nicht.

Frodo hätte also im Auenland gelebt, inmitten von Hobbits, und «die Hobbits sind ein unauffälliges, aber sehr altes Volk… denn sie lieben Frieden und Stille und einen gut bestellten Boden», schreibt ihr Erfinder J.R.R. Tolkien über sie, und dann noch: «Und sie lachten und assen und tranken denn auch oft und herzhaft, waren jederzeit zum Scherzen aufgelegt und hatten gern sechs Mahlzeiten täglich…»

Ja, hier wäre Frodo bestimmt in Sicherheit, und wir könnten ihn in seinem putzigen Haus Tagebuch schreiben lassen. Allein, wovon würde er bloss berichten?  Die ganzen Abenteuer, die üblen Widersacher, die gewaltige Bedrohung, die Angst, der Schmerz, die Einsamkeit und die tiefe Wunde, die ihm unterwegs geschlagen wurde, das alles würde ja nun wegfallen. Und grosse zwischenmenschliche Dramen spielen sich im friedfertigen Volk der Hobbits kaum ab. Es käme also höchstens ein Tagebucheintrag in Frage, in dem beschrieben wird, was Frodo gegessen und getrunken hat, zum Frühstück, zum zweiten Frühstück, zum frühen und zum späten Mittagessen und so weiter. Und schon werden wir müde. Oder zappelig, je nach Temperament. Da muss eindeutig mehr Action rein. Viel steht uns indessen nicht zur Verfügung. Das Verwegenste wäre wohl, den Umstand einzuflechten, dass die Hobbits leidenschaftliche Raucher waren, was uns irgendwie auch nicht hilft. Diese ganze glückliche kleine Welt ist schlicht langweilig, und hätte Tolkien seine Hobbits geschont, wir hätten sie längst vergessen, oder vielmehr: Wir hätten uns ihre Namen gar nie gemerkt. Und auch ihren Erfinder nicht.

Vielleicht brauchen wir einfach keine Geschichten, die erzählen, wie es ist, glücklich zu sein. Umso notwendiger sind solche, die zeigen, wie man glücklich werden kann. Und dazu gibt es Heldengeschichten. Dabei, und das ist das Schöne daran, kann die Figur des Helden, der Heldin variieren, und alles ist denkbar: Attraktive Frauen und Männer, Zwerge, Riesen, Kinder, Rentnerinnen, Buchhalter, Direktorinnen, sogar Ihr Nachbar hätte das Zeug zum Helden, ja, wirklich. Einzige Bedingung: Wir müssen die Heldinnen und Helden hart anpacken. Sie alle haben die Heldenreise anzutreten, die nach einem uralten Muster abläuft. Nach diesem Muster hat der Mythenforscher Joseph Campbell (Der Heros in tausend Gestalten) die grossen Geschichten bereits am Anfang des letzten Jahrhunderts abgesucht und dieses Muster überall und in Varianten gefunden. Stark verkürzt bedeutet die Heldenreise, dass der Held aus seiner behaglichen Umgebung ausbrechen muss, meistens, um die Welt oder zumindest ein Stück davon zu retten. Er besteht Abenteuer, stellt sich Herausforderungen und kehrt am Ende in die Gemeinschaft zurück. Auf seiner Reise hat er sich verändert, er hat dazugelernt und bringt der Gemeinschaft etwas Wertvolles zurück. Das muss nicht immer ein Schatz sein. Eine Erkenntnis ist ebenso kostbar.  

Auf dieses Erzählmuster können wir bauen, was immer wir auch zu schreiben haben. Und es hält selbst Varianten stand. Die erfolgreiche Rückkehr zum Beispiel lässt sich relativieren: Ein Held darf auch scheitern, und die Erkenntnis, die er mitbringt, kann eine Anleitung sein, wie mit Misserfolgen umzugehen ist. Was recht nützlich ist, bis zum heutigen Tag. Wie auch immer: Wenn wir unsere Heldinnen und Helden nicht in Watte packen und sie auf ihre Reise schicken, gibt es keine Geschichten (auch keine Unternehmensgeschichten) mehr, in denen alles glatt läuft. Unsere Heldinnen und Helden beginnen klein, haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen und wissen, dass Erfolg geteilt werden muss. Und der Erfolg nach all dieser Mühsal hat einen ganz anderen Glanz als der, der von einer durchgestylten Glitzerwelt mit nur positiven Inhalten ausgeht.

So gesehen haben die Heldinnen und Helden in meiner Erzähl-Manufaktur nichts zu lachen. Und selbst bei ihrer erfolgreichen Rückkehr gibt es keinen grossen Empfang. Ich lächle ihnen zu, tätschle ihre Schultern und bringe ihnen dann bei, dass es erst jetzt auf die grosse Reise geht: Zu den Leserinnen und Lesern. Wagnis: Hoch. Absturzgefahr: Absolut im Bereich des Möglichen. Verlauf und Ende der Reise also: Riskant und unbekannt. Jedesmal.

Das Baby hat auf Ihr Dossier gepinkelt? Verzeihen Sie ihm, vielmehr: Danken Sie ihm!

Es klingt absurd. Aber ein noch nicht kontinentes Baby, ein schlecht erzogener Hund oder ein Wasserschaden können uns durchaus aus einer misslichen Lage befreien. Und uns zum Schreiben treiben.

Ein Mann stirbt in der Badewanne, das Badewasser läuft über und sickert durch die Dielen in das untere Stockwerk, dorthin, wo der Tisch von Robertas Familie steht. Ausgerechnet. Denn auf diesem Tisch lag Robertas Schularbeit, in langer und mühevoller Arbeit abgefasst, aber jetzt komplett eingenässt. Unbrauchbar. Man bittet den Lehrer um Nachsicht. Ein starkes Stück. Und natürlich eine glatte Lüge. Der Lehrer weiss es. Er hat Roberta ja beobachtet, als sie diese Entschuldigung schrieb, im Namen ihrer Eltern, während des Unterrichts, mit der linken Hand, um wenigstens den Anschein zu erwecken, dass die Zeilen nicht von ihr stammten und Glaubwürdigkeit suggerierten. Es wäre leicht, sie zu entlarven, und mancher Lehrer täte dies wohl. Roberta aber blieb unbehelligt. Weil ihr Lehrer Frank McCourt hiess.

Dieser Umstand könnte jetzt natürlich eine Diskussion entfachen um die Problematik solcher Ausreden, die es wohl gibt, seit die erste Schule eröffnet wurde. Denn so phantasievoll, so farbig, so amüsant diese Entschuldigungen auch daherkommen, so sind sie doch allesamt erlogen und trachten zudem danach, den Adressaten für blöd zu verkaufen. Und das mag ja wohl keiner. Hinzu kommt die Frage, warum die Schützlinge ihrem Lehrer oder ihrer Lehrerin offenbar nicht vertrauen, zumindest nicht genug, um ihnen die Wahrheit sagen zu können, und das ist wirklich keine einfache Frage.

McCourt hat diese Frage nicht gross beschäftigt, dafür etwas anderes: Roberta und alle anderen Kinder ihrer Klasse verweigerten sich üblicherweise hartnäckig, wenn es darum ging, etwas zu schreiben. Nur in einem Fall flossen ihnen die Worte zügig aus dem Stift, nämlich dann, wenn es galt, sich aus einer delikaten Situation herauszuwinden. Dann liessen sie Boiler explodieren, Feuer ausbrechen, das Baby auf den Aufsatz pinkeln, den Hund die Hausaufgabe fressen, dann ersannen sie Schlaganfälle, Fehlgeburten und Raubüberfälle und lieferten damit ungewollt «Juwelen der Fiktion, Phantasie, Kreativität…», wie McCourt in seinem autobiografischen Roman «Tag und Nacht und auch im Sommer» schreibt.

Was näher besehen gar nicht so verwunderlich ist. Eine gute Ausrede muss dramatisch sein, Konflikte bergen und riesige Herausforderungen beschreiben, damit der Adressat sich kleinlich vorkäme, angesichts so gewaltiger Ereignisse noch einmal mit der trivialen Frage nach der unerledigten Hausaufgabe vorbeizukommen. Kleinlich wäre es auch, dem Helden der Geschichte, den das Leben gerade so hart prüft, dieses Leben noch schwerer zu machen. Und kleinlich will ja keiner sein, wenn er doch die Chance bekommt, als verständnisvoller und hilfreicher Mentor in die Abenteuergeschichte des kleinen Helden einzugehen. Kurzum: Eine brauchbare Ausrede muss all jene Eigenschaften aufweisen, die wir von einer guten, aber als fiktiv deklarierten Geschichte erwarten: Konflikte, Krisen, dramatische Herausforderungen für den Helden und die Heldin. Und darum lesen und hören wir Entschuldigungen dieser Art auch so gerne. Sie haben das gleiche Muster wie Geschichten, und Geschichten wiederum bilden in ihrem Erzählmuster das richtige Leben ab, wie ich es in einer früheren «Stoffprobe» schon ausgeführt habe. («Es braucht Zauberbücher, mein Junge, mein Mädchen»). Dass eine Entschuldigung dieser Art nur vorgibt, vom richtigen Leben zu erzählen, kümmert unser Gemüt wenig. Unser Gemüt verlangt nach Geschichten.

Womit wir die Frage noch nicht beantwortet haben, ob man Lügengeschichten an einer Schule dulden darf. McCourt löst die Sache pragmatisch. Er gibt seiner Klasse zu verstehen, dass er wohl weiss, aus wessen Feder solche Entschuldigungen fliessen. Und er bittet sie um weitere Entschuldigungen, für ihre zukünftigen Kinder, Adam und/oder Eva, sogar für Al Capone, Judas und alle Politiker Amerikas. Und am Ende des Tages hält er nicht nur gute Geschichten in den Händen. Er hat seine Schützlinge auch dazu gebracht, sich in jemanden hinein zu versetzen, vielleicht sogar hinein zu fühlen; sich über die Lebensumstände dieses Jemand Gedanken zu machen; zu verstehen, warum dieser Jemand so und nicht anders handeln konnte. Ein Vorgang, den Erzähler beherrschen müssen, wenn sie glaubhafte Figuren schaffen wollen, die glaubhafte Dinge tun. Und zudem eine gute Übung in Empathie, das heisst in der Fähigkeit, Gefühle und Beweggründe der anderen zu erkennen. Zu erkennen, aber nicht unbedingt gut zu heissen. Und das ist das Befreiende daran.

In diesem Sinne: Tun Sie das, was ich in meiner Erzähl-Manufaktur ab und zu mache. Sozusagen als Fingerübung. Schreiben Sie Entschuldigungen. Für Ihren nörgelnden Nachbarn. Für Ihre pubertierende Tochter. Für Ihren mürrischen Schwiegervater und Ihren Chef. (Für Politikerinnen und Politiker dieses Landes? Na, wir wollen jetzt nicht übertreiben.) Es wird Ihnen guttun. Und Sie werden vielleicht, ganz nebenbei, ein Stück Literatur schaffen, dramatisch, farbig und zu Tränen rührend.

Gut trainierte Männer passen nicht immer ins Bild. Leider.

Die Sehnsucht nach Schönem könnte einen schon dazu treiben, den einen oder anderen gut trainierten Mann in eine Geschichte zu schmuggeln. Oder eine schöne Frau. Was nicht verboten ist. Es sei denn, sie irren sinnlos durch den Text.

An diesem Tag hätte sie mir beinahe die Tür eingetreten, und nachdem ich das knapp verhindert hatte, stand sie, nennen wir sie Grethe, schnaufend in meiner Küche. Sie musste von ihrer Wohnung im Hochparterre links zu mir hinauf in den vierten Stock gerannt sein, aus gutem Grund, denn es gab Neuigkeiten. Schlechte Neuigkeiten. Immerhin nichts Tödliches, aber genug Dramatisches, eben genau das, was Grethe mochte. Die Mieterin vom Hochparterre rechts, nennen wir sie Ute, räumte nämlich ihre Wohnung leer. Zwei Männer, jung und gut trainiert, hatten ihr am Morgen geholfen, einen alten, wertvollen Schrank wegzubringen. Und: Utes Mann war weg. Ward seit Tagen schon nicht mehr gesehen. Und in der Zeit vor seinem Verschwinden hatte er schlecht ausgesehen. Wirklich schlecht, nicht bloss leicht unpässlich. Klar, was da abging: Zerrüttete Beziehung, ihm reichts, er haut ab, und sie vertickt seine Möbel. Zumindest diesen Schrank. Oder sie verschwindet ebenfalls, in Begleitung von gleich zwei jungen Kerlen.

Oder. Ein Wort, das mich in den nächsten Tagen das Fürchten lehrte. Beinahe jeder Satz von Grethe begann damit. Oder: Doch etwas Tödliches. Die beiden gut trainierten jungen Männer hatten verdächtig viel Kraft aufwenden müssen, als sie den Schrank aus der Wohnung trugen und auf ihren kleinen Laster hievten. Also leer war der nicht, der Schrank. Möglicherweise hatte Ute ihren Mann darin verstaut, nachdem er… oder nachdem sie ihn… Oder: Er ist zu seiner Geliebten gezogen, hat Ute in einem Anfall von schlechtem Gewissen das Mobiliar überlassen, ausser eben diesem Schrank… Oder: Es war keine Geliebte, sondern ein Geliebter, vielmehr waren es zwei. Was dann so nebenher die beiden Guttrainierten erklärt hätte.

Ich glaubte Grethe kein Wort. Aber ich mochte ihre Art, auch die kleinste Begebenheit als Indiz zu nehmen für eine haarsträubende, atemberaubende Geschichte. Das tun wir alle. Wir denken im Ursache-Wirkung-Schema, wir denken kausal. Alles muss seinen Grund haben. Daran müssen sich auch Geschichten halten. Damit die Leserinnen und Leser ihnen Sinn geben können, sind sie darauf angewiesen, dass das Geschehen logisch abläuft, dass jede Wirkung ihre Ursache hat. Wie im richtigen Leben. Frenzel, Müller & Sottong (Storytelling – Das Praxisbuch) fordern folgerichtig die kausale Verknüpfung der einzelnen Elemente einer Geschichte, und damit meinen sie nicht nur Anfang und Ende: «Auch die einzelnen Schritte… müssen aufeinander bezogen sein», und zwar selbst die kleinsten Schritte, mit jedem Detail. Sogar Gegenstände dürfen nicht grundlos herumliegen, wie schon Tschechow es einst gefordert hat, als er sinngemäss sagte, dass eine Pistole, die im ersten Akt eines Theaterstücks an der Wand hängt, spätestens im dritten Akt abgefeuert werden muss. Wird sie nicht abgefeuert, die Pistole, oder gibt es keinen Grund dafür, dass Guttrainierte auftreten, dann sollte man sie am besten aus der Geschichte entfernen. Jawohl, weg mit ihnen, so sehr uns das auch schmerzen mag. Sie lenken unsere Leserinnen und Leser nur ab, denn sie  sind damit beschäftigt, selber nach Ursachen für ihr Auftreten zu suchen, und verpassen die eigentliche Geschichte. Nur wenn wir uns beim Lesen darauf verlassen können, dass die Geschichte sich redlich um Kausalität bemüht, bekommen wir Lust zu spielen und uns eine Weile lang eigene Ursachen auszudenken. Die Geschichte öffnet dann eine riesige Landschaft voller Spuren, denen wir nachgehen, unaufdringlich geführt von unserem Erzählerin oder unserem Erzähler. Ab und zu führen die Spuren zu einer Überraschung, immer dann, wenn die Wirkung eine Ursache hat, an die wir selbst nie gedacht hätten.

Ich verstehe Grethe. Es könnte schon durchbrennen mit einem, wenn man nach nicht üblichen Ursachen sucht. Es sollte auch durchbrennen, zumindest, wenn es darum geht, eine Geschichte spannend zu erzählen. Aber auch ein Ursache-Wirkung-Schema, das auf der Hand liegt, muss nicht langweilig werden. Indem wir nur die Wirkung beschreiben: Eine versiffte Wohnung mit halbleeren Flaschen; oder ein blitzblankes Haus, überall hat es Glasuntersetzer und Schonbezüge. Man liest es, und man weiss Bescheid über den Menschen, der hier lebt. Mit diesem Vorgang spielt Monika Helfer in ihrem Roman «Die Bagage», wenn sie schreibt: «Vor dem Haus eine aufrechte Frau, sie hängt die Wäsche an die Leine… Jetzt gerade klammert die Frau eine Strampelhose fest und ein Jäckchen, also hat sie Kinder.»

Nach ein paar Tagen übrigens kam Utes Mann zurück. Etwas lädiert, etwas schwach. Er kam aus dem Spital. Blinddarmoperation. Nichts, was man den Nachbarn hätte mitteilen müssen. «Der Schrank? Ach ja, der Schrank», sagte Grethe. «Der kam ins Brockenhaus, wie bereits vor dem Spitalaufenhalt geplant. Die jungen Männer? Grethe gab nicht auf. «Ja, diese jungen Männer, nicht wahr? Na, im Brockenhaus arbeiten die bestimmt nicht. Weiss der Teufel, woher Ute die kennt. Von der Arbeit? Oder…»

Darum gehört ein markantes Aftershave in den Notvorrat

Reden wir über Umarmungen. Ausgiebig und ausführlich. So oft es geht. Darüber zu reden, ist noch erlaubt. Und wichtig. Denn vielleicht sind Geschichten über Umarmungen bald die Geschichten, die sich unsere Enkelkinder von uns wünschen.  

Gleich würde er meinen Namen rufen und strahlend auf mich zueilen, um mich in seine Arme zu schliessen und eine ganze Weile festzuhalten. Dann würde er  zwei herzhafte Schmatzer auf meiner rechten und meiner linken Wange platzieren, und dann noch zwei… und so weiter. Jedesmal, wenn ich ihn von Weitem sah, wusste ich, dass das passieren würde. Und dass er für den Rest des Tages und einen guten Teil des Abends bei mir bleiben würde. Nicht, was Sie jetzt wieder denken! Er blieb nur in meinen Gedanken bei mir. Vor allem, weil er die Angewohnheit hatte, sich ein Aftershave ins Gesicht zu schütten, das, sagen wir mal, einige recht markante Duftkomponenten enthielt. Es blieb an jedem haften, der in den Genuss seiner Umarmungen kam. Den ganzen Tag über und weit in den Abend hinein. Das Aftershave war  Geschmackssache. Aber seine Umarmungen mochte jeder.

Mochte. Vergangenheit. Nicht, weil er inzwischen gestorben wäre. Es geht ihm gut. Aber weil es solche Umarmungen nicht mehr gibt. Solche Umarmungen sind abgeschafft, beinahe verboten, was mich und meinen rebellischen Geist allerdings auf ein paar Ideen bringen könnte. Aber nicht lange. Sie würden nach staatlicher Einschätzung alle das Leben derer gefährden, die mir nahestehen. Wobei «nahestehen» jetzt irgendwie auch nicht mehr passt. Wie nahe stehen wir einander noch? Oder wie weit entfernt stehen wir? Ein, anderthalb, zwei Meter? Kommt darauf an, in welchem Land wir leben. International dagegen ist die Tatsache, dass wir bei Begrüssungen jetzt oft herumstehen wie linkische Teenager, weil wir nicht mehr wissen, was zu tun ist, was höflich ist, wertschätzend und herzlich. Und ich warte darauf, dass mir oder sonst jemandem ein pubertäres «‘s geht ab, Alter?» oder etwas in der Art entschlüpft. Es würde passen. Uns fehlen die alten Konventionen, auf die wir bis vor Kurzem zurückgreifen konnten. Und die neuen verwirren. Dieser Ellenbogen-Unterarm-Gruss. Wo wir diese Körperteile bislang dafür einsetzten uns zu schützen oder gar Feinde abzuwehren? Unglücklich. Und doch auf eine traurige Weise logisch. Für die Meisten ist jedes Gegenüber zu einer potentiellen Virenschleuder geworden, die es abzuwehren gilt. Hände halten, Hände schütteln, auch das geht nicht mehr. Das Lächeln sei jetzt der neue Handschlag, heisst es. Nur sehe ich kaum jemanden lächeln.

Es gibt Varianten, die Ghettofaust etwa. Zwar irgendwie cool, aber was eine Faust körpersprachlich aussagt, kann man nachlesen, etwa bei Samy Molcho (Körpersprache). Die leichte Verbeugung, zu der sich einige entschlossen haben, spricht zwar von Ehrerbietung, aber eben auch von Unterwerfung. Etwas anderes müsste her, und alle warten wir noch damit, in der Hoffnung, dass bald alles wieder wird, wie es war, mit Handschlag, Küsschen und Umarmungen. Doch selbst die nun betrauerten Umarmungen haben eine andere Seite: In Wüstenkulturen umarmte man sich, weil man kontrollieren wollte, ob sich unter den weiten Gewändern des Gegenübers Waffen verbargen. Sagt Samy Molcho.

Und eigentlich wollte ich ja über etwas ganz anderes schreiben. Darüber, wie man einen Text, egal welcher Art, beginnen müsste. Und da bin ich eben auf die Umarmung gekommen. Zwar nicht direkt. Aber es heisst ja ab und zu, dass der Anfang eines Textes wie ein Handschlag ist und deshalb so gestaltet werden muss, wie die erste Begegnung mit einem Menschen. Es ist von «in den Bann ziehen» die Rede, wir haben die Leserinnen und Leser zu «packen», vom ersten Augenblick an müssen wir sie «berühren», und wir dürfen sie nicht mehr «loslassen», bis zum Ende unserer Geschichte.

Vokabeln aus einer anderen Zeit. Und doch trifft es die Sache. Nur, dass wir in einem Text schon immer weniger Mittel hatten, Sympathien zu gewinnen, als bei der direkten Begegnung. Oder, sagen wir, andere. Einen optischen Eindruck müssen wir zuerst erzeugen, etwa, indem wir eine kleine Szene beschreiben. Auch fehlt das Gegenüber, zu dem wir Kontakt herstellen könnten. Wir versuchen es dennoch, zum Beispiel mit einer Frage. Oder wir bauen ein  Rätsel auf, fangen eine Geschichte an… Brauchbare Beispiele finden sich zuhauf. Allen gemeinsam die eine Anforderung: Emotionen wecken. Bei Rolf Wespe und Marie Lampert (Storytelling für Journalisten) kristallisiert sich diese Anforderung in einem einzigen Punkt, dem Story-Punkt. Er steht am Anfang der der Storykurve (ausgedacht von Peter Züllig und nicht zu verwechseln mit «Story points»). Im Story-Punkt schlummern die Emotionen und warten darauf, geweckt zu werden. Denn, schreiben Wespe und Lampert, «Ein emotionales Erlebnis schafft die Bereitschaft, Informationen aufzunehmen». Und es erzeugt  Nähe und somit Interesse, und davon sollten wir nicht abkommen. Gerade jetzt nicht. Zur Not schreiben wir eine Weile nur über diese Nähe. Damit sie nicht vergessen wird, damit man nachlesen kann, wie es geht mit dieser Nähe. Ein gewisser Notvorrat an solchen Texten wäre nicht verkehrt. Ich arbeite in meiner Erzähl-Manufaktur daran. Und bin erst zufrieden, wenn das Papier, auf dem sie stehen, ein wenig nach Aftershave duftet.

Die Arche legt ab

Das gegenwärtige Regenwetter könnte einen schon auf Gedanken bringen. Die gegenwärtige Stimmung noch mehr. Ob es nicht wieder einmal Zeit wäre, eine Arche zu bauen. Mein neuer Roman handelt davon. «Zeit der Arche» heisst er , und er ist ab sofort zu haben. Hier eine Stoffprobe davon.

Tereza Kulikowa war keine Russin, das wusste inzwischen jeder  auf dem Pass. Das einzig Russische an ihr war ihr klingender Name. Ansonsten war sie nie in Russland gewesen, sprach kein Wort Russisch, und selbst ihr verstorbener Mann, Wassili Kulikow, ein Milliardär mit Moskauer Wurzeln, hatte die meiste Zeit seines Lebens nicht in seiner eigentlichen Heimat verbracht, dafür aber seine letzten Jahre mit Tereza, die nach seinem Ableben über ein beträchtliches Vermögen verfügte. Dennoch nannte sie hier jeder einfach «die Russin».

Ansonsten wusste man nichts über sie – zumindest nichts, was sie selber erzählt hätte. Sie logierte seit einiger Zeit im «Alpenblick», belegte im Luxushotel die Suite und weitere Zimmer und lebte dort äusserst zurückgezogen. Sie zeigte sich nicht im Dorf, weder im Tankstellenladen noch im Hospiz. Was sie brauchte, liess die Kulikowa sich ins Hotel bringen. Auch wusste man von einem Hausbesuch, wenn man es denn so nennen konnte, den die Ärztin Nora Inderbitzin bei ihr im Hotel gemacht hatte, und zwar nicht an dem Wochentag, an dem sie ohnehin hier oben praktizierte. Sie hatte eigens für die Russin ihre Praxis in der Stadt verlassen und war auf den Pass gekommen. Etwas Ernstes schien ihr, der Russin, indessen nicht zu fehlen, vermutete man. Es sei bei einem einzigen Besuch der Ärztin geblieben.

Wenigstens, gestand man ihr zu, versuchte sie gar nicht, russisch zu wirken. Sie hätte ja zum Beispiel mit einem harten Akzent sprechen können. Aber sie blieb bei ihrem Dialekt, der im Nordosten des Landes gesprochen wurde. Alles, was sie sagte, klang hell und weich. Das wussten die Wenigen, die sich mit ihr unterhalten hatten; zu hell und zu weich für diesen Landstrich, fanden viele. Jaja, Nordosten, bestätigte Renate vom Tankstellenladen, nachdem sie die Kulikowa eingehend gegoogelt hatte. Renate hatte ein Bild von ihr und Wassili gefunden. Es zeigte die beiden an einem Wohltätigkeitsball aus dieser Gegend. «Das Ehepaar Kulikow-Hunziker», stand unter dem Bild. Renate hatte es Lea gezeigt, und auch noch ein zweites, älteres, aus den Achtziger Jahren, mit Theres Hunziker, wie sie damals noch hiess, als sie gerade zur «Miss Apfelblüte» gekürt worden war. Eine grosse, schlanke Frau, aus deren hellblonden Haaren eine Silberkrone aufblitzte. Lächelnd hielt sie einen Korb Äpfel im Arm.

„Hübsche Frau“, bemerkte Renate. „Und die Figur, nicht schlecht. Für die würde ich gern etwas schneidern. Ich sähe fliessende Stoffe an ihr…“

„Bitte, Renate, sag nicht ‚fliessend‘“, stöhnte Lea und blickte zum Himmel, aus dem es wie aus Kübeln goss. Seit Tagen regnete es unaufhörlich.

„Nach diesem Miss-Apfelblüte-Ding verliert sich die Spur der Russin“, murmelte Renate, während sie immer neue Stichworte in den Laptop tippte. „Bis eben zu ihrem Auftritt mit Wassili an diesem Wohltätigkeitsball, und dann wieder nichts, gar nichts. Sie könnte alles Mögliche getrieben haben, bevor sie hierhergekommen ist. Die Frage ist: Warum ist sie hier? Möglicherweise ist sie auf der Flucht.“

„Vor wem? Vor der Vereinigung der Obstproduzenten? Oder vor dem  Verband der Metzger? Weil sie sich damals geweigert hat, auch noch Miss Bratwurst zu werden?“

Renate blickte ungehalten auf.

„Deine Aufgabe ist es doch, Geschichten zu erzählen, Lea. Nicht, sie zu ruinieren, bevor sie so recht angefangen haben.“ Und sie vertiefte sich wieder in ihre Recherchen.

Das war ein paar Tage her. Inzwischen hatte Renate ihre Nachforschungen unterbrochen und war nach Mailand abgereist, um sich Inspirationen für ihre neue Kollektion zu holen. Seit dem letzten Winter lief es in ihrem Schneideratelier mehr als erfreulich, was auch für Lea Arbeit bedeutete. Wenn Renate im Atelier einen grösseren Auftrag hatte, half Lea im Tankstellenladen aus, den Renate und ihr Mann Mike auf dem Pass betrieben.

„Eine Hand wäscht die andere“, pflegte Renate zu sagen, wenn sie Lea wieder einmal bat, sie im Laden zu vertreten. Und: „Mein Erfolg ist auch deiner“, was Lea immer ein Lächeln entlockte, das, wie sie hoffte, nicht allzu gequält aussah. Nicht, dass ihr die Arbeit in der Tankstelle nicht gefiel. Doch eigentlich war sie ja hier auf dem Pass, um Geschichten zu erzählen. Und zum Erzählen war sie nur allzu selten gekommen.

Alle vier Romane aus dieser Reihe gibt es auch in einem handgemachten Schuber. http://lava-verlag.ch/

Sie wollen im Garten schreiben? Aber Sie haben doch gar keinen Garten!

Sie wollen erzählen. Unter einem Apfelbaum im Garten. Wenn Sie dann einmal einen haben. Aber: «Wenn dann einmal», das ist zu spät. Geschichten dulden keinen Aufschub. Und keine Ausreden.

Wir rannten wie der Teufel. Weil wir, Karl (Name fiktiv) und ich, auf dem Heimweg von der Schule jemanden verfolgten. Oder verfolgt wurden. Ich erinnere mich nicht mehr genau. Nehmen wir also ersteres an. Versehrt waren wir trotzdem, als wir bei Karls Grossmutter ankamen. Karls Grossmutter war so, wie man sich Grossmütter damals vorstellte: Gross, schön, schwarz gekleidet, weisshaarig und unglaublich sanft, ganz anders als alle Grossmütter, die ich sonst kannte, und doch die Grossmutter schlechthin. Sie leistete still Erste Hilfe, gab dann jedem von uns ein stark gezuckertes Hustenbonbon, obwohl wir gar nicht erkältet waren, und setzte uns ins Wohnzimmer. Der Raum lag im Halblicht. Er war vollgestellt mit dunklen, schweren Möbeln, vollgestopft mit Büchern und Andenken, und es roch nach Äpfeln. Die Grossmutter setzte sich zu uns und erzählte uns eine Geschichte. Und seitdem war ihre Stube der Ort, an dem man Geschichten erzählt und hört. Der einzig mögliche Ort.

Das mögen wir: Die Vorstellung, dass Geschichten einen ganz bestimmten Ort haben, an dem sie erzählt werden, und wir möblieren diesen Ort nicht ungern mit weichen Stühlen oder Kissen, gruppiert im Kreis, und in der Mitte ein Feuer, wenn sich das machen lässt, sicherheitstechnisch. Tatsächlich ist der Ort keine Nebensache. Sabine Gieschler, die Mitbegründerin des Berliner Erzählcafés (Leben erzählen), ist davon überzeugt, dass Geschichten einen festen Ort brauchen, genau wie es Orte gibt für das Theater, die bildende Kunst oder die Musik. Denn Erzählen ist für sie eine wesentliche Kulturtätigkeit, die öffentlich gepflegt werden muss. Öffentlich, aber dennoch in einem geschützten Raum. Der ideale Raum ist für sie das Erzählcafé, dem alten Kaffeehaus nachgebaut. Davon haben sich viele inspirieren lassen. Auch in unserem Land gibt es zahlreiche Erzählcafés, und es sollte noch mehr davon geben. Besonders Einrichtungen für Seniorinnen und Senioren leisten mit Hilfe solcher Erzählcafés wertvolle Biografiearbeit. Und Unternehmen setzen das Erzählen ein, seit sein Wert für die Unternehmenskommunikation am Ende des letzten Jahrtausends bekannt wurde. Erzählen hiess nun Storytelling und besagte, dass  Geschichten brauchbar sind, wenn es darum geht, Lernprozesse in Unternehmen festzuhalten und allen zugänglich zu machen, sei es im Marketing oder bei Change-Prozessen.

Man sieht den Wert des Erzählens – und zaudert trotzdem. Frenzel und ihre Co-Autoren (Storytelling – Das Praxisbuch) hören oft, wie die Verantwortlichen in Unternehmen den Umstand beklagen, dass man leider über keine geeigneten Räume verfüge für diese Story-Telling-Sache, dass die Besprechungsräume dafür einfach zu nüchtern seien und so weiter. Nein, sagen Frenzel und ihre Co-Autoren. Unsere Vorstellung vom geeigneten Raum nähren sich aus lange vergangenen Zeiten, in denen das Feuer zum Heizen und Kochen gebraucht wurde. Klar, dass man am Feuer erzählte, weil es arschkalt war und man ohnehin dort sass, wenn man nicht erfrieren wollte. Das hatte nichts Romantisches, das war der knallharte Alltag, das Selbstverständliche. Dieses Selbstverständliche ist es, das wir unseren Vorfahren nachmachen sollten. Indem wir wie sie die Geschichten in unseren beinharten Alltag einbauen. 

Natürlich ist es betörend, in einem schönen Raum zu erzählen. Doch der Raum darf nicht ausschlaggebend sein. Wäre er das, hätte Anne Frank, versteckt im Hinterhaus, nie Tagebuch geschrieben. Und Joanne K. Rowling hat dem Vernehmen nach ihren ersten Harry Potter-Roman in einem Pub realisiert, da kein Geld da war, um ihre Wohnung zu heizen. Karl May schrieb im Knast, zumindest hat er das behauptet. Ganz sicher hat er sich mit seinen Geschichten aus einer traurigen Realität wegerzählt. Es könnte also sein, dass der geeignete Raum Nebensache ist. Weil die Geschichten selber Räume schaffen. So gesehen ist es reine Zeitverschwendung, mit dem Erzählen zu warten, bis man mehr Zeit hat, einen Apfelbaum gefunden hat, unter dem man schreiben will, ein Schreibzimmer eingerichtet hat… Hätte Forrest Gump im gleichnamigen Film auf all das gewartet, hätten wir seine sagenhaften Geschichten nie miterlebt. Er erzählt auf einer harten Bank an einer Bushaltestelle in Savannah, Georgia.

Ich war übrigens nur dieses eine Mal in der Stube von Karls Grossmutter. Sie starb bald darauf, den Ort für Geschichten gab es nicht mehr. Ich musste mir notgedrungen andere Orte suchen, aber in keinem von ihnen waren Geschichten je so zuhause wie damals in ihrer Stube. Dafür sind sie jetzt überall. Ich schreibe am Küchentisch, in Wartezimmern, in der Bar… Und meine Erzähl-Manufaktur steht immer dort, wo sie gerade gebraucht wird: In einer Spenglerei, in der Kirche; in der Bibliothek; im Kleiderladen; im Sitzungsraum. Es geht nicht um den Ort, nicht in erster Linie. Die Geschichten sind der Ort. Und vielleicht sagt einmal jemand das zu mir, was eine Frau zu Forrest Gump sagt, an dieser Bushaltestelle in Savannah, Georgia: «Ich fand, das war eine wirklich sehr hübsche Geschichte. Und Sie erzählen sie so schön, mit so viel Begeisterung». Dann weiss ich, dass wir beide am gleichen Ort waren.

Vom präzisen Trinken – Oder warum Hähne Namen tragen sollten

Alle, die ausschliesslich Hochstehendes und Hochwertiges schreiben wollen, müssen jetzt tief durchatmen. Es geht hier um banale Details wie Essen und Trinken. Darum, wie wichtig sie sind. Und darum, dass Product Placement durchaus eine gewisse Daseinsberechtigung hat. 

Ein verlassenes Hausboot mit dem Namen Antigone strandet am Rheinwehr. Es gehört dem Basler Theaterintendanten Bernhard Vetter, der spurlos verschwunden ist. Die Polizei steht unter Druck. Aber sie hat ja Kommissar Hunkeler. Der hat es noch immer gerichtet, und daran wird sich auch im neusten Roman von Hansjörg Schneider hoffentlich nichts ändern. Aber von diesem ist hier nicht die Rede. Ein neuer Roman ist kein Grund, die alten zu vergessen, weil man, wenn man die Handlung schon kennt, auf anderes achten kann, zum Beispiel im Roman «Hunkeler und die Augen des Ödipus». Das ist eben der mit dem Hausboot und dem Theaterintendanten. Der übrigens bald auftaucht, als Leiche. Ein schauerlicher Anblick, und gewiss auch etwas unappetitlich.

Und doch bekomme ich beim Lesen nach wenigen Seiten Hunger, nein, eigentlich mehr: Es ergreift mich die Sehnsucht nach etwas Gutem. Denn davon gönnt sich der Kommissar nicht zu knapp. Bevor er überhaupt von diesem Fall erfährt, frühstückt er, und zwar Eier, soeben gelegt von seinen Hühnern im Elsass, und der Hahn dieser Hühner heisst Fritz. Dazu Butterzopf, Honig, Kaffee und Tee. Dann die Nachricht von Antigone und dem verschwundenen Intendanten. Hunkeler fährt nach Basel. Aber bevor er sich zum Rapport begibt, um sich dort mit seinem Gegenspieler Madörin zu fetzen, kehrt er bei Edi ein, welcher Wildschweinpastete mit Weissbrot und Essigzwiebeln serviert und dazu eine Flasche Riesling empfiehlt. Was alles, das gebe ich zu, für den Fortgang der Handlung nicht wichtig ist. Der Kommissar könnte ja einfach «frühstücken» und bei Edi «etwas essen», oder man könnte die Sache mit der Nahrungsaufnahme ganz bleiben lassen. Und doch: Indem ich mit diesem Hunkeler durch die Stadt streife, ihn eintreten sehe in diese Beiz und jene Bar, mit ihm esse und trinke und Leuten begegne, erfahre ich viel über ihn, ohne dass Hansjörg Schneider ihn explizit charakterisieren muss. Ich erfahre das, was man im Film «Backstory» nennt, und diese darf, wie der Name gebietet, nicht in den Vordergrund treten und die Haupthandlung stören. Backstory meint streng genommen die Vorgeschichte des Protagonisten. Ich fasse den Begriff etwas weiter und verstehe darunter auch die gegenwärtigen Lebensumstände der Figur. Und natürlich will ich diese kennen. Wer ist der Kerl, der diesen kniffligen Fall löst? Hat er Familie? Schulden? Eine Geliebte? Einen Hund? Oder eben einen Hahn namens Fritz? Das alles will ich nebenher erfahren, und noch lieber gezeigt bekommen. Mit Details. Was Schneider meisterhaft kann, und das längst nicht nur mit Hilfe von Essen und Trinken. Er liebt die Details und pflegt sie, er ist präzise, ohne einmal langweilig zu werden.

Jede Stilschule fordert Konkretes, also Details. Wolf Schneider (Das neue Handbuch für Journalismus) sieht im Konkreten die «totale Übereinstimmung zwischen Journalismus und Literatur». Konkret kann ich  überall dort werden, wo nicht mit Hilfe von abstrakten Oberbegriffen kategorisiert werden muss. Weil ich bei  «Geflügel» nichts gackern und krähen höre, bei «Huhn» und «Hahn» aber schon, und wenn der Hahn einen Namen hat wie bei Hunkeler, dann bin ich mitten im prallen Leben des Protagonisten. Der Autor zeichnet dessen Backstory schon vor dem Frühstück, indem er zeigt, satt sagt. Ganz im Sinne von Wolf Schneider: «Nur Sinneseindrücke… zu schildern, die Folgerungen daraus aber dem Leser zu überlassen, hat noch einen weiteren Vorzug: den, dass der Leser sich nicht durch das Urteil des Schreibers bevormundet fühlt.»

Anderen hat gerade die Präzision in den Details Vorwürfe eingetragen. Die Helden der Stieg-Larsson-Romane benutzten penetrant Apple-Produkte, heisst es. Product Placement! Schleichwerbung! Und das in der Literatur! Igitt! Oder doch nicht. Denn es macht einen Unterschied, ob ein Protagonist Apple-Benutzer ist oder nicht. Weil diese Produkte längst zum Statement ihrer Besitzerinnen und Besitzer geworden sind. Genauso wie ein Mercedes oder ein E-Bike. Beim Bundesamt für Kommunikation scheint man diesen Umstand erfasst zu haben, wenn man die Sache mit dem Product Placement für Filme folgendermassen regelt: «Während Schleichwerbung immer illegal ist, ist ein Product Placement dann zulässig, wenn es in die Sendungsdramaturgie passt und klar als solches deklariert ist.» Und im Zweifelsfall lieber ein Detail zuviel als das phantasielose Glas Rotwein in vielen Büchern und in noch mehr Serien, das die Protagonistin geniesst, während sie über ihren harten Tag sinniert. Nichts gegen Rotwein. Aber nicht alle sind Rotweintrinker. Das Detail wird absolviert, weil man weiss, dass es sein muss – und verkommt zum nutzlosen Requisit. Konkret muss es dennoch nicht immer sein. Die Hauptfigur in meiner Romanreihe lebt in einem nicht näher benannten Hochtal. Auf dass die Leserinnen und Leser sich ihre eigene Kulisse schaffen können, eine, die sie kennen. Das schafft Vertrautheit.  Ansonsten lasse ich in meiner Erzähl-Manufaktur die Figuren recht präzise trinken, Talisker, Burgunder, Kaffee oder Bier. Trinken wir mit. Auf die Details. Die Richtigen. Sie sollen passen. Und fröhlich machen. So oft es nur geht. 

Meine Mutter hat unzählige Wölfe gerettet. Und sie gleich danach umgebracht.

Nein. Das ist keine Diskussion um frei lebende Wölfe in unserem Land. Hier geht es um den Wolf schlechthin. Meine Mutter hat ihn beschützt und ausgelöscht. Alles am gleichen Abend.

Jeden Abend starb der Wolf, und ich konnte rein nichts dagegen tun, ausser zu protestieren, lautstark und ausdauernd. Ich ertrug den Tod des Wolfes nicht, und ich ertrug den Gedanken nicht, dass dieser vor seinem Ableben das Rotkäppchen samt Grossmutter gefressen haben soll. Geschah ihm doch Recht, sagte meine  Schwester, wenn sie darauf bestand, dass meine Mutter die Geschichte erzählte, haarklein und mit allen krassen Details. Meine Schwester ist älter als ich und konnte damals schon einiges vertragen, geschichtenmässig. Es wurde heftig und turbulent, jeden Abend. Bis meine Mutter zu einer List griff: Sie erzählte zwei Versionen von Rotkäppchen, zuerst eine für  mich, in der alles schön und gut war, sogar der Wolf, der darum wahrscheinlich heute noch lebt und sogar glücklich und zufrieden ist. Und erst, wenn ich ob dieser Geschichte eingeschlafen war, griff sie zur Hardcore-Version für meine Schwester.

So hat man es mir erzählt, denn an diese Abende erinnere ich mich selber nicht. Sie liegen beinahe am Anfang meines Lebens, und kenne sie nur aus den  Erinnerungen der anderen, und von diesen erfuhr ich später, als ich etwas grösser war, aber immer noch ein Kind. Ich ärgerte mich damals sehr darüber, dass ich früher ein so larmoyantes Weichei gewesen sein sollte. Zwar erfuhr ich nie wirklich, was sich in der weichgespülten Version meiner Mutter abgespielt hatte, aber ich stellte sie mir jetzt grässlich langweilig vor. Und haderte doch mit mir selber, weil ich es offenbar nicht aushielt, wenn alles gut war, und einen harmonischen Zustand nur geniessen konnte, wenn sich dieser am Schluss einer Geschichte befand.

Aber damit stand und stehe ich wohl nicht alleine. In den meisten Geschichten wird erst am Ende alles gut, und ich bin nicht die Erste, die darüber nachdenkt, ob wir uns vielleicht deswegen so schwer tun mit dem Glücklichsein, weil es keine Geschichten gibt, die sich ausschliesslich mit dieser Kunst befassen, die uns über Hunderte von Seiten ein Panoptikum des Glücks hinterlassen, dem wir nachstreben könnten. Zumindest kenne ich keine. Oder ich habe sie gleich wieder vergessen. Am ehesten finden wir sie in den Erfolgsgeschichten von Unternehmen: Wohl hat man klein angefangen und hart gearbeitet, aber dann ging es rasch bergauf, ohne einen Stein im Weg. Und mir schläft das Gesicht ein ob dieser Geschichte, und ich glaube kein Wort davon. Weil es nun einmal nicht so läuft, nicht im Leben und schon gar nicht in Geschichten. Gute Geschichten brauchen Konflikte, sie brauchen Krisen und Gegenspieler, mit denen wir uns messen können. Sie brauchen Heldinnen und Helden, die ab und zu irren, straucheln und hinfallen und dabei lernen, wie man aufsteht und weitermacht. Und wir lernen mit ihnen. Denn lernen wollen wir alle, aus allen Geschichten. Damit sie uns durch alle Fährnisse hindurch zu etwas führen, das wir Glück nennen. Es bleibt nie lange, das Glück, und dann beginnt die Sache mit den Konflikten und Kämpfen aufs Neue. Aber jedesmal mit einigen Erfahrungen mehr, die uns helfen, zu überleben.

Nur über diese Art von Glück kann ich schreiben. In der anderen Art, dem ununterbrochenem, lebenslangem Glück, kenne ich mich nicht aus. Zu wenig Action für eine Schriftstellerin. Mein Ding sind höchstens Glücksmomente. Im Leben blitzen sie kurz auf. In meinen Geschichten kann ich sie auswalzen und darin schwelgen. Na ja, ein bisschen. Darum liebe ich die Szene von Aragorns Krönung in der Verfilmung von «Herr der Ringe». Ich habe sie mir wieder und wieder angesehen. Und doch, irgendwann war es dann gut.

Ganz verflogen ist der Ärger über meine eigene Zimperlichkeit in jungen Jahren noch immer nicht. Inzwischen beschäftigt mich aber eher die List meiner Mutter. Mit ihr ist mir früh aufgegangen, dass eine Geschichte nicht unverrückbar ist, dass es immer Möglichkeiten gibt, sie zu ändern, und weit mehr als zwei. Und von Möglichkeiten leben wir Schreiberinnen und Schreiber, und der immer wiederkehrende Satz in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende versichert uns, dass es immer etwas zu erzählen gibt: «Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.»

Der grosse Erzähler und Semiotiker Umberto Eco spricht von bestimmten Punkten in jeder Geschichte, die er Wendpunkte nennt, oder Wahrscheinlichkeitsdisjunktionen. Hier kann der Erzähler, die Erzählerin entscheiden, wie die Geschichte weitergeht, hier können aber auch die Leserinnen und Leser über den weiteren Verlauf spekulieren. Es gibt für beide viel zu tun. Und das ist der Sinn von Geschichten. Manchmal überrascht die Erzählerin den Leser. Und manchmal ist es umgekehrt. Die Phantasie des Lesers und der Leserin überholt die des Schreibers und der Schreiberin. Das sind magische Momente. Manchmal stellen sie sich ein in meiner Erzähl-Manufaktur, wenn ich mit Leuten an Geschichten arbeite.

Es muss rattern, beim Schreiben und beim Lesen

Es rattert, wenn ich in meiner Erzähl-Manufaktur Geschichten baue. Blut, Schweiss und Tränen fliessen, natürlich nur metaphorisch, na ja, meistens. Und manchmal muss es still werden. Damit die, die lesen, arbeiten können. Denn das müssen sie.

Irgendwann im Laufe dieser Geschichte setzt die Grossmutter ihren kleinen Enkel Fabio auf das leere Fernsehschränkchen und bittet ihn, der Familie etwas zu erzählen. Der Fernseher ist kaputt und die Festtagsrunde will unterhalten werden. Die Szene kommt einem etwas verrückt vor. Aber die Familie, von der ich hier rede, ist nun einmal so, und sie lebt ihre Verrücktheit ungeniert aus. Also erstaunt es nicht, dass der kleine Fabio der Familie nun eine Geschichte erzählt, die sie schon längst kennt. Das heisst, er erzählt sie zuerst mir, der Leserin des Romans  «Wo man im Meer nicht mehr stehen kann» von Fabio Genovesi. Es erzählt mir, wie seine Grossmutter und sein Grossvater sich  kennengelernt haben, im Laden, in dem die Grossmutter damals arbeitete, und es ist eine wunderbare Geschichte, hauchfein und dennoch voller Dramatik, und die Emotionen explodieren am Ende, und alles ist so… italienisch wie der ganze Roman es ist, farbig, dicht, laut, lärmig und doch wieder leise und zärtlich.

Ich schlendere durch diesen Roman wie durch einen üppigen Markt und bleibe ab und zu stehen, überrascht von etwas Kleinem, das sich unter den prächtigen Auslagen verbirgt. Bei der Geschichte, die mir Fabio erzählt, ist es diese Nebenhandlung: Bevor nämlich die Grossmutter im Laden gearbeitet hat, war sie Dienstmädchen bei einer reichen Familie. Bis der Hausherr sie belästigte, sie ihm einen Tritt dorthin verpasste, wo es wehtut, und natürlich ihren Job los war. Das alles beichtet sie nach der Verlobung Fabios Grossvater, welcher sie tröstet und weiter nicht viel dazu sagt. Und das alles erzählt der Junge jetzt mir, seiner Leserin. Aber in der folgenden Nacht, fährt er weiter, verschwindet das Auto dieses Hausherrn auf rätselhafte Weise. Man findet es demoliert auf der Piazza.  Totalschaden, und keiner weiss, wie das gekommen ist.

Eine knappe Geschichte, eher nebenher erzählt. Doch mein Gehirn rattert. Und ich liebe es, wenn es das tut. Ich male mir aus, wie der Grossvater und seine verrückten Brüder in den Park vor der Villa des Mannes eingedrungen sind, wie sie die sauteure, wohlpolierte Karosse geknackt und auf der Piazza an die nächstbeste Wand gefahren haben… Und ich freue mich darüber, dass ich als Leserin Arbeit bekomme, dass der Autor mir hier inmitten seiner Welt eine Lücke gelassen hat für meine eigenen Gedanken, Bilder und Gefühle.

Gute Geschichten haben beides: Die präzise Beschreibung ebenso wie die Lücken. Gute Geschichten walzen hier etwas aus, dehnen und drehen es, und sie  deuten dort etwas nur an – wie in einem geschickt geschnittenen Film. Bei schlechten Geschichten  fällt oft die Angst vor den Lücken auf.  Es ist die Angst, nicht verstanden zu werden, die dazu verführt, alles, wirklich lückenlos alles zu beschreiben und zu berichten – und gerade das langweilt die Rezipientinnen und Rezipienten, sie werden übellaunig und verabschieden sich.  Um sie bei Laune zu halten, muss es nämlich ab und zu etwas zu tun geben für sie. Ihre Hauptarbeit besteht ohnehin darin, einer Geschichte Sinn zu geben, die Verbindung der einzelnen Teile zu erkennen, kurzum, die Kohärenz einer Geschichte für sich selber herzustellen. Die Hauptarbeit der Autorinnen und Autoren aber ist es, diese einzelnen Teile und Hinweise auf deren Zusammenhang zu liefern. Aber ebenso wichtig ist es, hier und dort einfach nichts zu schreiben, Leerstellen zu schaffen, Lücken, die gefüllt werden müssen. So bleiben Leserinnen und Leser beschäftigt, und es fällt ihnen nicht ein, das Buch wegzulegen oder uns nicht mehr zuzuhören. Diese Lücken zu schaffen, braucht Mut. Mit jeder davon gebe ich als Autorin die Oberhoheit meiner eigenen Deutung an die Leserinnen und Leser ab, ich gebe meine Geschichte aus den Händen. Was ich aber ohnehin tun muss, wenn ich sie unter die Leute bringen will. Anzunehmen, meine Geschichte bleibe meine Geschichte, wenn auch nur einer sie hört oder liest, ist eine Illusion, und das Erwachen daraus äusserst schmerzhaft, aber auch heilsam.

Fabios Publikum aber ist, wie schon erwähnt, kein gewöhnliches. Als er die Liebesgeschichte knapp wiedergeben will, protestieren die Verwandten. Ihre Gehirne wollen offensichtlich nicht ins Rattern geraten. Sie fordern Fabio auf, genau zu erzählen – was heisst hier «auffordern»? Sie feuern ihn geradezu an. Sie treiben ihn zu Höchstleistungen und bringen ihn dazu, selbst die  unscheinbare Nebengeschichte zu einer wahren Heldenreise zu machen, in der alle Beteiligten  äusserst mannhaft agieren. Am Ende seiner Geschichte weiss Fabio zwar nicht mehr, was damals nun tatsächlich geschehen ist und was er erfunden hat. Was unwichtig ist, weil er seine Familie nun ohnehin in einem neuen Licht sieht. Und der Verdacht liegt nahe, dass seine Verwandten nicht einfach zu faul waren, die Lücken in der Geschichte des Jungen selber zu füllen und damit ihr Gehirn rattern zu lassen. Vielmehr wollten sie Fabio zum Rattern bringen, sein Gehirn und sein Herz. In diesem Sinne rattert es auch in meiner Erzähl-Manufaktur – und manchmal wird es still, für die Lücken.

Es braucht Zauberbücher, mein Junge, mein Mädchen

Erzählerinnen und Erzähler wollen gute Geschichten machen. Doch dazu müssen sie zuerst selber Geschichten machen. Was nicht dasselbe ist. Oder irgendwie doch. Es ist kompliziert. Aber schön.

Irgendwie hatte ich sie behaglicher in Erinnerung gehabt, die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende, so mit Glücksdachen, mutigen Kindern und fabelhaften Wesen, guter Stoff, um ihn Abend für Abend meinen Kindern zu erzählen, vielmehr simultan ins Dialekt zu übersetzen, bevor sie angeregt und glücklich schlafen gingen. Aber spätestens, als Artax, das treue Pferd des Kriegers Atréju, in den Sümpfen der Traurigkeit versank, da erinnerte ich mich endlich wieder an die beinharten Passagen in diesem Buch. Zu krass. Zu früh für meine Kinder – und wohl noch immer zu früh für mich. Doch da war es zu spät. Wir waren mitten in der Geschichte und konnten uns nicht mehr aus ihr herausstehlen, genauso wie der eigentliche Held der Geschichte, Bastian, sich nicht so einfach aus Phantásien verdrücken konnte und wollte. Wie auch immer: Wir mussten da jetzt durch, wir würden das schaffen. Schliesslich waren wir aus anderen Geschichten Kummer und Aufregung gewohnt, hatten schon viele Abenteuer erlebt und überlebt, also blieben wir in Phantásien, solange es nötig war, und hielten durch bis zum glücklichen Ende. Unbeschadet, wie mir meine Kinder später versicherten.

Das ist lange her, und ich erinnere mich nicht mehr, wie ich während des Erzählens versucht hatte, die schrecklichen Dinge abzufedern, die in der unendlichen Geschichte eben auch geschehen. Nachträglich hoffe ich nur, dass ich den einen Satz nicht gesagt habe, den Satz, den wir Kindern (und damit auch uns selber) nicht ungerne sagen, wenn es gerade wieder brenzlig wird in einer Geschichte, nämlich, dass das alles ja nur eine Geschichte ist, die nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat. Denn dieser Satz ist falsch. Das wissen wir spätestens seit Michael Ende. Und inzwischen untermauern Storytelling-Expertinnen und Experten die Theorie, dass selbst die unglaublichsten Geschichten eng mit unserer Wirklichkeit verknüpft sind. Einige von ihnen orientieren sich dabei an der Hirnforschung, etwa Werner T. Fuchs („Warum das Gehirn Geschichten liebt“)  oder Annette Simmons („Mit guten Geschichten Menschen gewinnen“).  Fuchs erklärt diesen Umstand mit „Urthemen“, die uns allen gemeinsam sind und die jeder mit seinem eigenen Material füllen kann. Und Simmons sieht immer wiederkehrende Muster in Geschichten, in Gestalt archetypischer Figuren, mit einem interessanten Nebeneffekt: Erzählt jemand seine Geschichte, erzählt er (im Muster) auch die der anderen. Die Geschichte findet also kollektive Resonanz und wirkt bei denen, die sie hören oder lesen, wie Selbsterlebtes. Was erklären würde, dass kein Kind einem glaubt, wenn man versichert, dass eine Geschichte nur eine Geschichte ist.

So gesehen sind alle, die wir Geschichten lieben, schon ordentlich herumgekommen und haben einiges mitgemacht, haben gelitten, geliebt, gehasst, geweint und gelacht und waren ab und zu sogar glücklich, wenn auch meist erst am Ende, wir waren abgrundtief schlecht und sind dann doch wieder über uns selbst hinausgestiegen, um die Welt zu retten – oder wenigstens ein kleines Stück davon. So gesehen hätten wir genug getan und könnten uns im wirklichen Leben zurücklehnen, es zum Auenland machen, in dem alles schön und gut und gemütlich ist.

Aber so einfach ist das alles dann doch wieder nicht. Phantásien existiert nicht ohne unsere Geschichten. Denn wir sind es, die die Geschichten machen müssen. Was bedingt, dass wir zuerst selber Geschichten machen, im wirklichen Leben. Nicht alle müssen so spektakulär, waghalsig und gefährlich sein wie die unserer Helden. Zum Glück, denn sonst würden die meisten von uns wohl schon längst vom Gefängnis aus schreiben. Aber die Bausteine unserer Geschichten liegen in der Realität. Wir müssen sie aufsammeln und zusammensetzen, nach uralten Mustern, aber immer wieder neu. Das ist die vornehme Aufgabe aller Erzählerinnen und Erzähler, und, ich sage noch mehr und scheue mich nicht davor,  jetzt feierlich zu werden: Es ist ihre Pflicht. Was dann entsteht, sind neue Bilder von alten Wahrheiten. Und an neue Bilder hat Michael Ende geglaubt. Kritik am Bestehenden sei notwendig, hat er einmal in einem Interview gesagt. Viel wichtiger aber sei es, Vor- oder vielmehr Wunschbilder zu erfinden und für viele sichtbar zu machen. Michael Ende verliess sich auf die Anziehungskraft dieser Wunschbilder und sagte, dass diese „mit einer ganz grossen Gewalt“ die ungut gewordenen äusseren Verhältnisse ändern könnten, weil diese Verhältnisse dann schlicht nicht mehr mitgespielt würden. Man bleibe nur in den alten Verhältnissen stecken, solange man sich nicht vorstellen könne, wie die neuen aussehen sollten.

Es gibt viel zu tun für uns Geschichtenerzählerinnen und Erzähler. Denn nicht nur die Unendliche Geschichte soll nach Phantásien führen. Der knurrige Buchhändler, Herr Koreander, sagt zu Bastian, die Unendliche Geschichte sei wohl ein Zauberbuch. Aber: „Es gibt eine Menge Türen nach Phantásien, mein Junge. Es gibt noch mehr solche Zauberbücher.“ Und noch mehr sollten entstehen. Es ist dringend. Vielleicht gelingt auch mir dereinst ein Zauberbuch. Ich arbeite daran. In meiner Erzähl-Manufaktur. Tag für Tag.

Einfach erzählen – selbst wenn ein freundlicher Orkan auf uns zukommt

Es gibt tatsächlich starke Worte, die ganze Geschichten bergen. Erzählen sollte man sie trotzdem, diese Geschichten. Weil die Welt ohne Erzählen nicht auszuhalten ist. Ich weiss, wovon ich rede. Denn ich habe Bruna erlebt.

Bruna war ein frischer Wind, ein Wirbelsturm, ein freundlicher Orkan, laut und schön. Bruna kam aus Italien und arbeitete im Welschland. Wie mein Onkel Hansi, der mit Bruna jeden Sommer ihre Familie in Italien besuchte. Auf der Rückreise kamen die beiden bei uns vorbei. Bruna brachte unglaubliche, zum Teil ungeheuerliche Dinge mit, von denen wir bisher keine Ahnung gehabt hatten. Ich nenne fürs erste nur zwei davon: gebackenes Huhn und Lippenstift. Gut, das klingt jetzt nicht gerade ungeheuerlich, nicht einmal unglaublich, eher prosaisch. Das Huhn hatte Brunas Mutter in Italien zubereitet, es roch und schmeckte nach Rosmarin und irgendwie nach Süden. Und dann eben die Lippenstifte. Brunas Handtasche war voll davon, und sie schenkte jedem Mädchen der Familie einen, obwohl keine von uns älter als acht war. Was dann auch der ungeheuerliche Aspekt dieses Geschenks war – zumindest in den Augen meiner Grossmutter.

Das Ungeheuerlichste an Bruna aber war die fremde Sprache, in der sie sich mit meinem Onkel unterhielt: Französisch, denn er konnte damals noch nicht Italienisch, und sie nicht Deutsch. Alles, was sie zueinander sagten, klang unfassbar schön in dieser Sprache, und in dieser Sprache hiess Hansi auch nicht mehr Hansi, sondern Jean. Seit Hansi aber Jean war, war er auch zum Dolmetscher geworden. Alles, was wir sagten, musste er für Bruna übersetzen, was bestimmt anstrengend war, für mich aber eine Offenbarung. Denn selbst die banalsten Sätze von uns klangen nun wie ein Chanson von Charles Aznavour aus dem Radio. In dieser Familie kam man selten zu Wort, und ich kämpfte um jedes davon, nur, um das, was ich erzählte, in dieser Sprache zu hören, und ich redete, wann immer die anderen eine Atempause machten, erzählte dies und das, schmückte aus, schweifte ab freute mich auf die Übersetzung von Jean für Bruna. Doch zu meiner Enttäuschung war diese jeweils mehr als knapp. Ein kurzer Satz, Bruna nickte, und man wechselte das Thema. Konnte es sein, dass in dieser wunderbaren Sprache ein einziges Wort mehr bedeutete als in meiner? Dass jedes einzelne Wort eine lange Geschichte barg, und man musste nur dieses Wort aussprechen, und alle verstanden? Zuerst gefiel mir diese Idee. Aber dann ging mir auf, dass damit das Erzählen überflüssig würde. Ein beängstigender Gedanke war das damals, und er ist es noch heute. Denn Erzählen ist wichtig. Erzählen bringt Menschen zusammen, für kurze oder längere Zeit. An einem Ort und in einer Geschichte. Oder in vielen Geschichten, die sich einkerben in das kollektive Gedächtnis einer eingeschworenen Gruppe. So war das Erzählen wohl von Anfang an gedacht. Das Wort „Erzählen“ hiess im Althochdeutschen „irzellen“ und bedeutete ganz zuerst „aufzählen“. Was uns zum Verb „zählen“ bringt, das im Indogermanischen „Einkerben“ bedeutet. Eingekerbte Geschichten sind wichtig. Das fand auch Sabine Gieschler, die zu Beginn der Achtzigerjahre Mitbegründerin des legendären Berliner Erzählcafés  war. Sie holte das Erzählen aus dem privaten Bereich in die Gesellschaft und machte 365 Erzählcafés möglich. Dies, weil für sie das Erzählen die Kulturtätigkeit einer ganzen Gesellschaft sein muss. Erzählen kann helfen, die Dinge in einer unübersichtlich gewordenen Welt zu benennen und einzuordnen. Erzählen kann vormachen, wie ein Leben zu bewältigen ist, in dem keine festen Ordnungen mehr Schutz bieten können und in dem es keine selbstverständlichen Zusammenhänge mehr gibt. Erzählen kann uns also helfen, diese Welt zu begreifen und durch den Tag zu kommen.

Die Sache mit Bruna und dem Französischen war vor dieser Zeit. Doch irgendetwas davon hatte ich bereits damals gespürt. Oder ich hatte einfach diese einsilbigen Übersetzungen satt. Zudem bekam meine Theorie, dass Geschichten im Französischen nur ein Wort brauchten, bald arge Risse. Denn machte meine Grossmutter eine Bemerkung, eine ganz kurze, meist giftige oder zumindest vorwurfsvolle, brauchte mein Onkel viele Worte und Sätze für die Übersetzung, und dann redete Bruna, auch sie recht lange, und jedem wurde klar, dass in keiner Sprache der Welt ein so kurzer Satz zu einem so langen werden konnte.

Mir dämmerte etwas, und beinahe zeitgleich meiner Grossmutter. Sie, die die Schule früh verlassen und seither nie mehr ein Schulhaus aus der Nähe gesehen hatte, sie beschloss, Französisch zu lernen, heimlich, um zu erfahren, was die beiden sich wirklich zu erzählen hatten. Wie weit ihre Studien gediehen waren, weiss ich nicht. Denn bald konnte Bruna Deutsch und nannte Jean nun auch Hansi, zwar „Ansi“, ohne „H“, aber das machte die Sache nicht besser. Dass sie sich jetzt mit meiner Grossmutter unterhalten konnte, auch nicht. Es gab kleine Reibereien, aufregende Streitereien und dramatische Versöhnungen. Es gab wieder viel zu erzählen. Bis heute. Davon lebe ich – und lebt meine Erzähl-Manufaktur.

In diesen Zeiten über Bücherregale nachdenken? Echt jetzt? Echt jetzt.

Natürlich haben wir gerade andere Sorgen. Dennoch ist das Nachdenken über Bücherregale nicht unangebracht. Dabei geht es nicht in erster Linie um Bücher. Oder Regale. Es geht um Lücken. Und um Bisoziation.

Eines meiner ersten Bücherregale hätte mich beinahe eine Liebe gekostet. Die Krise kam früh, beim Einzug in die gemeinsame Wohnung und in diesem Zusammenhang mit dem Bücherregal, vielmehr mit den Elementen, aus denen es bestand, nämlich aus etlichen langen, schweren Brettern und dann eben diesen Backsteinen, pro Brett vier oder sogar sechs davon. Jeder Stein wog ordentlich etwas, und jeder musste hinauf in den vierten Stock, ohne Lift. Die Krise war unausweichlich. Unser junges Glück überstand sie. Wir trennten uns viel später aus ganz anderen Gründen.

Doch wie um alles in der Welt komme ich jetzt, in diesen schwierigen Tagen, auf Bücherregale? Vielleicht ist dieses Phänomen die erste nachweisbare Folge des Umstandes, dass ich meine sozialen Kontakte im Zeichen der Zeit drastisch reduziert habe. Hinzu kommt, dass ich in den letzten Tagen und Wochen so viele Bücherregale gesehen habe wie noch nie zuvor. Im Fernsehen und im Internet dienen sie oft jenen als Hintergrund, die das Verstörende um uns herum einzuordnen und der Welt zu erklären versuchen. Auch jenen, die mit ihrem Team im Home-Office verbunden bleiben oder ihre Schützlinge ungebrochen weiter unterrichten wollen. Den Umständen geschuldet treten sie alle nun zuhause auf, via Skype, Zoom oder mit selber fabrizierten Videos, die beweisen, dass auch die Bilderwelt eine neue ist. Die Gesichter sind unscharf, Bild- und Tonspur gehen je eigene Wege, und niemand hat so recht Lust, auf Bildausschnitte oder Perspektiven zu achten. Man zeigt sich nicht ungern aus der Froschperspektive, Doppelkinn ist eh egal jetzt, wir haben ja wirklich andere Sorgen. Im Hintergrund die Zimmerdecke, von der die Neonröhre flackert, macht nichts, hört einfach zu, was ich sage. Stimmt eigentlich, und vielleicht heilt dieser neue Trend ja endlich unsere übersteigerte Sucht nach perfekten Bildern.

Andere, wie gesagt, bemühen sich noch tapfer um etwas Contenance und stellen sich für ihre Videos vor das Bücherregal. Doch ist ein Bücherregal nicht einfach ein Bücherregal. Um sich von der Härte der Berichte abzulenken, gleitet der Blick des Betrachters oft über die Regale im Hintergrund. Wohl kann man kaum einmal einzelne Buchtitel entziffern. Aber es fällt auf, wenn alle Buchrücken dieselbe Grösse und Farbe haben. Da könnten Nachschlagewerke aufgereiht sein, und man beginnt darüber nachzugrübeln, ob man diese überhaupt noch zeigen darf in einer digitalisierten Welt. Oder ob man da schon als rückständig belächelt wird und das, was man gerade sagt, dadurch unglaubwürdig wirkt. Das wäre fatal, gerade jetzt. Oder weist die Gleichförmigkeit von Farbe und Form darauf hin, dass hier Buchrücken am Meter gekauft wurden und dass das, was der Mensch vor dem Regal sagt, ähnlich hohl sein könnte wie sein Bücherregal? Und ein Regal voll mit Bundesordnern – Geht das noch? Ging das überhaupt je einmal?

Wenigstens habe ich in all diesen Aufnahmen noch kein Regal mit Backsteinen gesehen. Ich habe meines ja auch längst ersetzt. Aber leider sah ich auch nie ein Regal, das eine Lücke in der Reihe der Bücher aufweist, eine Lücke, die darauf hindeuten könnte, dass der Mensch vor dem Regal eines seiner Bücher, einen Roman oder einen Band mit Kurzgeschichten, aus der Reihe gezogen hat und, gleich nachdem er uns Auskunft gegeben hat, darin weiterlesen wird. Eine solche Lücke würde Mut und Vertrauen vermitteln. Sie würde zeigen, dass da einer ist, der Geschichten mag. Und einer, der Geschichten mag, ist immer auch einer, der offen ist für Ideen. Und Ideen brauchen wir jetzt. Ideen, wie unsere Gesundheit zu retten ist, die Weltwirtschaft und die Welt überhaupt, wie wir Arbeit und Privates auf kleinem Raum vereinen und doch trennen, wie wir unsere Liebsten weiter lieben, obwohl wir sie jetzt ununterbrochen sehen (oder weil wir sie lange nicht sehen können) – und was gegen die Angst zu tun ist. Zu fast allem gibt es natürlich schon Tipps im Internet. Mir wäre aber die Lücke im Bücherregal lieber.  Mir gefällt die Vorstellung, dass da jemand ein besonderes Buch aus dem Regal geholt hat, ein  Buch, das von etwas ganz anderem erzählt. Von mir aus zur Ablenkung. Oder eben doch, weil er Ideen sucht. Denn wer Ideen braucht, der sollte auch Dinge wahrnehmen, die scheinbar nichts mit dem zu tun haben, was uns jetzt so sehr absorbiert. Das nennt man Bisoziation. Der Begriff aus der Kreativitäts- und Humor­forschung bezeichnet eine Methode, die Gegenstände und Gedanken aus Bereichen verknüpft, die scheinbar gar nichts miteinander zu tun haben. Gerade durch das Verbinden unvereinbarer Bereiche kann man unkonventionelle Vorstellungen entwickeln. Das hilft, wenn man etwas Bahnbrechendes erfinden will. Das hilft auch mir in meiner Erzähl-Manufaktur auf der Suche nach guten Geschichten. Und wir brauchen gute Geschichten. Mehr denn je.

Warum eine Nähmaschine beim Schreiben nicht verkehrt ist

Kann es sein, dass die Wiege der Inspiration im Entlebuch steht? Und, falls Ja: Was hat das mit der Nähmaschine meiner Mutter zu tun? Und wie zum Teufel kommt diese Nähmaschine in meine Erzähl-Manufaktur?

„Steh auf!“ Zwei Worte meiner Mutter, die sich seit meiner Kindheit tief in mein Gedächtnis eingestanzt haben. „Steh auf“ war jedoch nicht ihr Weckruf am Morgen. Für den Weckruf am Morgen brauchte sie keine Worte. Dafür reichten ihr Taten. Mit einem kraftvollen Ruck riss sie den Fenstervorhang auf, und da dieser Vorhang mit Metallringen an einer Metallstange befestigt war, erzeugte das ein recht fieses Geräusch, welches meist schon die gewünschte Wirkung zeitigte. Und stellte sich diese nicht umgehend ein, so legte sie nach: Mit Fensteraufreissen und dem Knallen der Fensterläden, wenn sie mit Schwung geöffnet und an die Hauswand gebrettert wurden, und spätestens dann wusste ich, dass ich verloren hatte. Denn im gleissenden Frühmorgenlicht, das dann ins Zimmer schoss, zeigte die Niederlage sich in scharfen Konturen.

Das „Steh auf“ kam weit unspektakulärer, halblaut und eher nebenbei, was meine Niederlage jedoch kaum abfederte. Das „Steh auf“ befahl mir, meinen Platz an der Nähmaschine zu räumen für die, die wirklich dorthin gehörte, meine Mutter. Denn meine Mutter ist Schneiderin, und ihre Nähmaschine ist längst legendär. Aber das ist eine andere Geschichte. Diese Geschichte erzählt von meinen Versuchen, selber etwas zu nähen, die allesamt gründlich daneben gingen und denen meine Mutter jeweils mit diesem „Steh auf“ ein Ende setzte, indem sie ihren Platz einnahm und zu retten versuchte, was noch zu retten war.

Ich war talentfrei, was das Nähen betraf. Nach langem sah ich es ein und beschäftigte mich nur noch mit dem, was ich besser konnte: Schreiben. Und dennoch war ich meistens die Erste, die diesen Katalog studierte, „Ackermann Entlebuch“, den Katalog mit den vielen Stoffproben, jede kaum grösser als eine Briefmarke, aber man konnte die Stoffe greifen, und man hatte sie mit einer Zickzackschere zugeschnitten. Ich machte einen letzten Versuch, indem ich anregte, eine Zickzackschere anzuschaffen, obwohl ich die Reaktion meiner Mutter schon kannte: Zickzackscheren waren etwas für Verlierer, für solche, nicht imstande waren, einen anständigen Saum hinzukriegen, genauso wie Druckknöpfe nur jenen als billigen und höchst unlauteren Ausweg dienten, die unfähig waren, ein Knopfloch zustande zu bringen. Also sah ich mich gezwungen, mich auf das Wesentliche dieser Kataloge zu konzentrieren: Die Stoffe. Ich nahm meine Faszination für sie einfach an, ohne mir erklären zu können, warum diese kleinen Stoffproben mich dermassen inspirierten. Der Katalog ging nach der Bestellung zurück ins Entlebuch. Und bis der nächste kam, fragte ich im Stoffladen im Dorf nach Stoffresten. Ich gab vor, daraus Puppenkleider nähen zu wollen, was eine blanke und schamlose Lüge war. Ausser meiner Unfähigkeit zum Nähen bestand da noch die traurige Tatsache, dass ich eine miserable Puppenmutter war. Immerhin brachte diese Lüge die Frau im Stoffgeschäft dazu, mir einige Stofffetzen mitzugeben, meistens bunte, feine Stoffe, manchmal auch dunkle, aber weiche. Zuhause faltete ich sie zusammen und schaute sie mir immer wieder an.

Viel später glaubte ich, die Erklärung für meine Liebe zu Stoffen gefunden zu haben. Das war am Tag, an dem ich herausfand, dass das Wort „Text“ „Gewebe“ bedeutet. Wie bei den Stoffen die Fäden ineinandergreifen müssen, so müssen bei einem Text die Worte wohl gesetzt sein, und untereinander so verbunden, dass man daraus eine Geschichte lesen kann, eine Geschichte, die auf den ersten Blick schon etwas Anziehendes hat und die Tiefe erahnen lässt. Wie aus einem Stoff beinahe alles entstehen kann, so habe ich auch mit Worten und Sätzen schier unbegrenzte Möglichkeiten. Mit ihnen gebe ich meinen Ideen und meinen Gedanken Gestalt – und hoffe, dass jemand sie liest und ihren Sinn erkennt. Oder ihnen einen eigenen Sinn gibt.

Natürlich sage ich mir in meinen gnadenlosen Momenten, dass diese Verbindung zwischen dem, was meine Mutter umtreibt und dem, was mich beschäftigt, herbeigewürgt ist. Dass ich diese Verbindung auch zur Leidenschaft meines Vaters, dem Arbeiten mit Holz, mit etwas gutem Willen zu knüpfen vermöchte. Fakt ist: Ihr Talent wurde an mich nicht vererbt, und ich konnte die Enttäuschung darüber keinem von beiden ersparen. Und doch: Die stille Versunkenheit meiner Mutter, diese für sie ansonsten untypische Art von Andacht, die sich bei ihr immer einstellte, wenn ein Stück Stoff auf dem Tisch lag, dieses respektvolle Ausatmen, bevor sie die Schere ergriff und begann, den Stoff zuzuschneiden. Und die gleiche Stille in der Werkstatt meines Vaters, bevor er an einem Stück Holz die Säge ansetzte. Diese beiden Erinnerungen blitzen in mir auf. Jedesmal, bevor ich in meiner Erzähl-Manufaktur zu schreiben beginne.

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