Auch die alltäglichsten Geschichten, sogar Gebrauchstexte erzählen von Heldinnen und Helden. Ihretwegen werden Geschichten gelesen. Behandeln Sie sie also gut. Indem Sie sie in Abgründe stürzen, ins Elend rennen lassen oder in die blanke Verzweiflung treiben.
Es ist ja alles ganz schlimm am Ende des ersten Bandes von «Herr der Ringe»: Zwei der Gefährten werden verschleppt, der grosse Mentor Gandalf verschwindet, die Reise nach Mordor steht an, die eigentlich nicht zu schaffen ist. Viel zu viel für den kleinen Hobbit Frodo, der keine geringere Aufgabe hat als die, die Welt zu retten. Ein Gedanke blitzt in uns auf: Warum das Buch jetzt nicht weglegen und sich für Frodo eine eigene Geschichte ausdenken? Die Welt ist schlimm genug. Warum also nicht wenigstens in einer Geschichte alles gut sein lassen? Warum sich nicht vorstellen, dass Frodo im Auenland geblieben wäre? Weil es keinen Grund gegeben hätte, wegzugehen? Sein Land wäre nämlich nicht bedroht gewesen, und der Rest der Welt ebenfalls nicht.
Frodo hätte also im Auenland gelebt, inmitten von Hobbits, und «die Hobbits sind ein unauffälliges, aber sehr altes Volk… denn sie lieben Frieden und Stille und einen gut bestellten Boden», schreibt ihr Erfinder J.R.R. Tolkien über sie, und dann noch: «Und sie lachten und assen und tranken denn auch oft und herzhaft, waren jederzeit zum Scherzen aufgelegt und hatten gern sechs Mahlzeiten täglich…»
Ja, hier wäre Frodo bestimmt in Sicherheit, und wir könnten ihn in seinem putzigen Haus Tagebuch schreiben lassen. Allein, wovon würde er bloss berichten? Die ganzen Abenteuer, die üblen Widersacher, die gewaltige Bedrohung, die Angst, der Schmerz, die Einsamkeit und die tiefe Wunde, die ihm unterwegs geschlagen wurde, das alles würde ja nun wegfallen. Und grosse zwischenmenschliche Dramen spielen sich im friedfertigen Volk der Hobbits kaum ab. Es käme also höchstens ein Tagebucheintrag in Frage, in dem beschrieben wird, was Frodo gegessen und getrunken hat, zum Frühstück, zum zweiten Frühstück, zum frühen und zum späten Mittagessen und so weiter. Und schon werden wir müde. Oder zappelig, je nach Temperament. Da muss eindeutig mehr Action rein. Viel steht uns indessen nicht zur Verfügung. Das Verwegenste wäre wohl, den Umstand einzuflechten, dass die Hobbits leidenschaftliche Raucher waren, was uns irgendwie auch nicht hilft. Diese ganze glückliche kleine Welt ist schlicht langweilig, und hätte Tolkien seine Hobbits geschont, wir hätten sie längst vergessen, oder vielmehr: Wir hätten uns ihre Namen gar nie gemerkt. Und auch ihren Erfinder nicht.
Vielleicht brauchen wir einfach keine Geschichten, die erzählen, wie es ist, glücklich zu sein. Umso notwendiger sind solche, die zeigen, wie man glücklich werden kann. Und dazu gibt es Heldengeschichten. Dabei, und das ist das Schöne daran, kann die Figur des Helden, der Heldin variieren, und alles ist denkbar: Attraktive Frauen und Männer, Zwerge, Riesen, Kinder, Rentnerinnen, Buchhalter, Direktorinnen, sogar Ihr Nachbar hätte das Zeug zum Helden, ja, wirklich. Einzige Bedingung: Wir müssen die Heldinnen und Helden hart anpacken. Sie alle haben die Heldenreise anzutreten, die nach einem uralten Muster abläuft. Nach diesem Muster hat der Mythenforscher Joseph Campbell (Der Heros in tausend Gestalten) die grossen Geschichten bereits am Anfang des letzten Jahrhunderts abgesucht und dieses Muster überall und in Varianten gefunden. Stark verkürzt bedeutet die Heldenreise, dass der Held aus seiner behaglichen Umgebung ausbrechen muss, meistens, um die Welt oder zumindest ein Stück davon zu retten. Er besteht Abenteuer, stellt sich Herausforderungen und kehrt am Ende in die Gemeinschaft zurück. Auf seiner Reise hat er sich verändert, er hat dazugelernt und bringt der Gemeinschaft etwas Wertvolles zurück. Das muss nicht immer ein Schatz sein. Eine Erkenntnis ist ebenso kostbar.
Auf dieses Erzählmuster können wir bauen, was immer wir auch zu schreiben haben. Und es hält selbst Varianten stand. Die erfolgreiche Rückkehr zum Beispiel lässt sich relativieren: Ein Held darf auch scheitern, und die Erkenntnis, die er mitbringt, kann eine Anleitung sein, wie mit Misserfolgen umzugehen ist. Was recht nützlich ist, bis zum heutigen Tag. Wie auch immer: Wenn wir unsere Heldinnen und Helden nicht in Watte packen und sie auf ihre Reise schicken, gibt es keine Geschichten (auch keine Unternehmensgeschichten) mehr, in denen alles glatt läuft. Unsere Heldinnen und Helden beginnen klein, haben mit Schwierigkeiten zu kämpfen und wissen, dass Erfolg geteilt werden muss. Und der Erfolg nach all dieser Mühsal hat einen ganz anderen Glanz als der, der von einer durchgestylten Glitzerwelt mit nur positiven Inhalten ausgeht.
So gesehen haben die Heldinnen und Helden in meiner Erzähl-Manufaktur nichts zu lachen. Und selbst bei ihrer erfolgreichen Rückkehr gibt es keinen grossen Empfang. Ich lächle ihnen zu, tätschle ihre Schultern und bringe ihnen dann bei, dass es erst jetzt auf die grosse Reise geht: Zu den Leserinnen und Lesern. Wagnis: Hoch. Absturzgefahr: Absolut im Bereich des Möglichen. Verlauf und Ende der Reise also: Riskant und unbekannt. Jedesmal.