Erzählerinnen und Erzähler wollen gute Geschichten machen. Doch dazu müssen sie zuerst selber Geschichten machen. Was nicht dasselbe ist. Oder irgendwie doch. Es ist kompliziert. Aber schön.

Irgendwie hatte ich sie behaglicher in Erinnerung gehabt, die „Unendliche Geschichte“ von Michael Ende, so mit Glücksdachen, mutigen Kindern und fabelhaften Wesen, guter Stoff, um ihn Abend für Abend meinen Kindern zu erzählen, vielmehr simultan ins Dialekt zu übersetzen, bevor sie angeregt und glücklich schlafen gingen. Aber spätestens, als Artax, das treue Pferd des Kriegers Atréju, in den Sümpfen der Traurigkeit versank, da erinnerte ich mich endlich wieder an die beinharten Passagen in diesem Buch. Zu krass. Zu früh für meine Kinder – und wohl noch immer zu früh für mich. Doch da war es zu spät. Wir waren mitten in der Geschichte und konnten uns nicht mehr aus ihr herausstehlen, genauso wie der eigentliche Held der Geschichte, Bastian, sich nicht so einfach aus Phantásien verdrücken konnte und wollte. Wie auch immer: Wir mussten da jetzt durch, wir würden das schaffen. Schliesslich waren wir aus anderen Geschichten Kummer und Aufregung gewohnt, hatten schon viele Abenteuer erlebt und überlebt, also blieben wir in Phantásien, solange es nötig war, und hielten durch bis zum glücklichen Ende. Unbeschadet, wie mir meine Kinder später versicherten.

Das ist lange her, und ich erinnere mich nicht mehr, wie ich während des Erzählens versucht hatte, die schrecklichen Dinge abzufedern, die in der unendlichen Geschichte eben auch geschehen. Nachträglich hoffe ich nur, dass ich den einen Satz nicht gesagt habe, den Satz, den wir Kindern (und damit auch uns selber) nicht ungerne sagen, wenn es gerade wieder brenzlig wird in einer Geschichte, nämlich, dass das alles ja nur eine Geschichte ist, die nichts mit dem wirklichen Leben zu tun hat. Denn dieser Satz ist falsch. Das wissen wir spätestens seit Michael Ende. Und inzwischen untermauern Storytelling-Expertinnen und Experten die Theorie, dass selbst die unglaublichsten Geschichten eng mit unserer Wirklichkeit verknüpft sind. Einige von ihnen orientieren sich dabei an der Hirnforschung, etwa Werner T. Fuchs („Warum das Gehirn Geschichten liebt“)  oder Annette Simmons („Mit guten Geschichten Menschen gewinnen“).  Fuchs erklärt diesen Umstand mit „Urthemen“, die uns allen gemeinsam sind und die jeder mit seinem eigenen Material füllen kann. Und Simmons sieht immer wiederkehrende Muster in Geschichten, in Gestalt archetypischer Figuren, mit einem interessanten Nebeneffekt: Erzählt jemand seine Geschichte, erzählt er (im Muster) auch die der anderen. Die Geschichte findet also kollektive Resonanz und wirkt bei denen, die sie hören oder lesen, wie Selbsterlebtes. Was erklären würde, dass kein Kind einem glaubt, wenn man versichert, dass eine Geschichte nur eine Geschichte ist.

So gesehen sind alle, die wir Geschichten lieben, schon ordentlich herumgekommen und haben einiges mitgemacht, haben gelitten, geliebt, gehasst, geweint und gelacht und waren ab und zu sogar glücklich, wenn auch meist erst am Ende, wir waren abgrundtief schlecht und sind dann doch wieder über uns selbst hinausgestiegen, um die Welt zu retten – oder wenigstens ein kleines Stück davon. So gesehen hätten wir genug getan und könnten uns im wirklichen Leben zurücklehnen, es zum Auenland machen, in dem alles schön und gut und gemütlich ist.

Aber so einfach ist das alles dann doch wieder nicht. Phantásien existiert nicht ohne unsere Geschichten. Denn wir sind es, die die Geschichten machen müssen. Was bedingt, dass wir zuerst selber Geschichten machen, im wirklichen Leben. Nicht alle müssen so spektakulär, waghalsig und gefährlich sein wie die unserer Helden. Zum Glück, denn sonst würden die meisten von uns wohl schon längst vom Gefängnis aus schreiben. Aber die Bausteine unserer Geschichten liegen in der Realität. Wir müssen sie aufsammeln und zusammensetzen, nach uralten Mustern, aber immer wieder neu. Das ist die vornehme Aufgabe aller Erzählerinnen und Erzähler, und, ich sage noch mehr und scheue mich nicht davor,  jetzt feierlich zu werden: Es ist ihre Pflicht. Was dann entsteht, sind neue Bilder von alten Wahrheiten. Und an neue Bilder hat Michael Ende geglaubt. Kritik am Bestehenden sei notwendig, hat er einmal in einem Interview gesagt. Viel wichtiger aber sei es, Vor- oder vielmehr Wunschbilder zu erfinden und für viele sichtbar zu machen. Michael Ende verliess sich auf die Anziehungskraft dieser Wunschbilder und sagte, dass diese „mit einer ganz grossen Gewalt“ die ungut gewordenen äusseren Verhältnisse ändern könnten, weil diese Verhältnisse dann schlicht nicht mehr mitgespielt würden. Man bleibe nur in den alten Verhältnissen stecken, solange man sich nicht vorstellen könne, wie die neuen aussehen sollten.

Es gibt viel zu tun für uns Geschichtenerzählerinnen und Erzähler. Denn nicht nur die Unendliche Geschichte soll nach Phantásien führen. Der knurrige Buchhändler, Herr Koreander, sagt zu Bastian, die Unendliche Geschichte sei wohl ein Zauberbuch. Aber: „Es gibt eine Menge Türen nach Phantásien, mein Junge. Es gibt noch mehr solche Zauberbücher.“ Und noch mehr sollten entstehen. Es ist dringend. Vielleicht gelingt auch mir dereinst ein Zauberbuch. Ich arbeite daran. In meiner Erzähl-Manufaktur. Tag für Tag.