Natürlich haben wir gerade andere Sorgen. Dennoch ist das Nachdenken über Bücherregale nicht unangebracht. Dabei geht es nicht in erster Linie um Bücher. Oder Regale. Es geht um Lücken. Und um Bisoziation.
Eines meiner ersten Bücherregale hätte mich beinahe eine Liebe gekostet. Die Krise kam früh, beim Einzug in die gemeinsame Wohnung und in diesem Zusammenhang mit dem Bücherregal, vielmehr mit den Elementen, aus denen es bestand, nämlich aus etlichen langen, schweren Brettern und dann eben diesen Backsteinen, pro Brett vier oder sogar sechs davon. Jeder Stein wog ordentlich etwas, und jeder musste hinauf in den vierten Stock, ohne Lift. Die Krise war unausweichlich. Unser junges Glück überstand sie. Wir trennten uns viel später aus ganz anderen Gründen.
Doch wie um alles in der Welt komme ich jetzt, in diesen schwierigen Tagen, auf Bücherregale? Vielleicht ist dieses Phänomen die erste nachweisbare Folge des Umstandes, dass ich meine sozialen Kontakte im Zeichen der Zeit drastisch reduziert habe. Hinzu kommt, dass ich in den letzten Tagen und Wochen so viele Bücherregale gesehen habe wie noch nie zuvor. Im Fernsehen und im Internet dienen sie oft jenen als Hintergrund, die das Verstörende um uns herum einzuordnen und der Welt zu erklären versuchen. Auch jenen, die mit ihrem Team im Home-Office verbunden bleiben oder ihre Schützlinge ungebrochen weiter unterrichten wollen. Den Umständen geschuldet treten sie alle nun zuhause auf, via Skype, Zoom oder mit selber fabrizierten Videos, die beweisen, dass auch die Bilderwelt eine neue ist. Die Gesichter sind unscharf, Bild- und Tonspur gehen je eigene Wege, und niemand hat so recht Lust, auf Bildausschnitte oder Perspektiven zu achten. Man zeigt sich nicht ungern aus der Froschperspektive, Doppelkinn ist eh egal jetzt, wir haben ja wirklich andere Sorgen. Im Hintergrund die Zimmerdecke, von der die Neonröhre flackert, macht nichts, hört einfach zu, was ich sage. Stimmt eigentlich, und vielleicht heilt dieser neue Trend ja endlich unsere übersteigerte Sucht nach perfekten Bildern.
Andere, wie gesagt, bemühen sich noch tapfer um etwas Contenance und stellen sich für ihre Videos vor das Bücherregal. Doch ist ein Bücherregal nicht einfach ein Bücherregal. Um sich von der Härte der Berichte abzulenken, gleitet der Blick des Betrachters oft über die Regale im Hintergrund. Wohl kann man kaum einmal einzelne Buchtitel entziffern. Aber es fällt auf, wenn alle Buchrücken dieselbe Grösse und Farbe haben. Da könnten Nachschlagewerke aufgereiht sein, und man beginnt darüber nachzugrübeln, ob man diese überhaupt noch zeigen darf in einer digitalisierten Welt. Oder ob man da schon als rückständig belächelt wird und das, was man gerade sagt, dadurch unglaubwürdig wirkt. Das wäre fatal, gerade jetzt. Oder weist die Gleichförmigkeit von Farbe und Form darauf hin, dass hier Buchrücken am Meter gekauft wurden und dass das, was der Mensch vor dem Regal sagt, ähnlich hohl sein könnte wie sein Bücherregal? Und ein Regal voll mit Bundesordnern – Geht das noch? Ging das überhaupt je einmal?
Wenigstens habe ich in all diesen Aufnahmen noch kein Regal mit Backsteinen gesehen. Ich habe meines ja auch längst ersetzt. Aber leider sah ich auch nie ein Regal, das eine Lücke in der Reihe der Bücher aufweist, eine Lücke, die darauf hindeuten könnte, dass der Mensch vor dem Regal eines seiner Bücher, einen Roman oder einen Band mit Kurzgeschichten, aus der Reihe gezogen hat und, gleich nachdem er uns Auskunft gegeben hat, darin weiterlesen wird. Eine solche Lücke würde Mut und Vertrauen vermitteln. Sie würde zeigen, dass da einer ist, der Geschichten mag. Und einer, der Geschichten mag, ist immer auch einer, der offen ist für Ideen. Und Ideen brauchen wir jetzt. Ideen, wie unsere Gesundheit zu retten ist, die Weltwirtschaft und die Welt überhaupt, wie wir Arbeit und Privates auf kleinem Raum vereinen und doch trennen, wie wir unsere Liebsten weiter lieben, obwohl wir sie jetzt ununterbrochen sehen (oder weil wir sie lange nicht sehen können) – und was gegen die Angst zu tun ist. Zu fast allem gibt es natürlich schon Tipps im Internet. Mir wäre aber die Lücke im Bücherregal lieber. Mir gefällt die Vorstellung, dass da jemand ein besonderes Buch aus dem Regal geholt hat, ein Buch, das von etwas ganz anderem erzählt. Von mir aus zur Ablenkung. Oder eben doch, weil er Ideen sucht. Denn wer Ideen braucht, der sollte auch Dinge wahrnehmen, die scheinbar nichts mit dem zu tun haben, was uns jetzt so sehr absorbiert. Das nennt man Bisoziation. Der Begriff aus der Kreativitäts- und Humorforschung bezeichnet eine Methode, die Gegenstände und Gedanken aus Bereichen verknüpft, die scheinbar gar nichts miteinander zu tun haben. Gerade durch das Verbinden unvereinbarer Bereiche kann man unkonventionelle Vorstellungen entwickeln. Das hilft, wenn man etwas Bahnbrechendes erfinden will. Das hilft auch mir in meiner Erzähl-Manufaktur auf der Suche nach guten Geschichten. Und wir brauchen gute Geschichten. Mehr denn je.